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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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gelang ihr nicht.
Obwohl sie geschlafen hatte, war sie so müde und erschöpft
wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Ihr Körper fühlte sich an,
als hätte man die ganze Kraft aus ihm herausgesogen. Noch
einmal rief sie nach ihrer Mutter; und noch einmal kam nur ein
leises Murmeln über ihre Lippen, das selbst sie nur mit Mühe
hören konnte. Dieses Rufen kostete sie so viel Kraft, dass sie
beinahe wieder in die Bewusstlosigkeit abgedriftet wäre. Und
gerade als sie sich den sanften Armen des Schlafs überlassen
wollte, hörte sie etwas.
    Ein Geräusch, beinahe so leise wie das, das sie eben selbst
von sich gegeben hatte, so leise, dass sie glaubte, sich vielleicht
verhört zu haben. Und dennoch grub sich dieser Laut in das
bisschen Bewusstsein, das ihr noch geblieben war, und entzog
sie dem angenehmen Schlaf.
    Sie drehte den Kopf, spähte in das dunkle Grau zu ihrer
Rechten.
Und sah etwas.
Sie musste sich sehr anstrengen, es in dem düsteren Licht zu
erkennen, und zunächst wusste sie nur, dass es irgendwie
vertraut aussah. Und dann dämmerte es ihr – es war eine dieser
Bahren, die sie benutzten, um Leute im Krankenhaus
herumzufahren. Das hatte sie im Fernsehen schon hundertmal
gesehen. Aber wie nannte man sie? Sie kramte in ihrer
Erinnerung, die sich genauso matt anfühlte wie ihr Körper,
dann fiel es ihr wieder ein.
Eine Tragbahre – nein, da gab es noch einen Ausdruck dafür. Krankentrage.
Das war es. Erschöpft von der Anstrengung, das richtige
Wort zu finden, blieb sie ganz still liegen und schnappte nach
Luft, als wäre sie gerade dreimal um den Block gerannt. Und
während sie so im dämmrigen Licht lag, und ihr Atem sich
beruhigte, begannen ihre Finger die Oberfläche zu erforschen,
auf der sie lag.
Sie war hart, von einem Leintuch bedeckt, und fühlte sich
durch den dünnen Stoff kalt an.
Auch eine Trage.
Lag sie im Krankenhaus?
Noch einmal kramte sie in ihrer Erinnerung, doch die Teile
von gestern zusammenzusetzen erschien ihr sehr viel
schwieriger als ein Tausend-Teile-Puzzle. Nach und nach ergab
sich ein Bild. Sie war gestern Abend nicht krank gewesen – sie
hatte sich gut gefühlt. Es war Mom gewesen, der es nicht gut
gegangen war.
Als sie von der Schule nach Hause gekommen war, hatte
ihre Mutter im Bett gelegen, und sie war zu ihr gegangen.
Hatte sie sich da bei ihr angesteckt? Aber sie fühlte sich nicht
so, als hätte sie Grippe – bei Grippe musste sie sich oft
erbrechen, die Knochen taten ihr weh, und sie bekam Fieber.
Jetzt war sie nur völlig erschöpft – unendlich müde wie nie
zuvor.
Aber nicht krank.
Wieder grub sie in ihrer Erinnerung und fand weitere
Puzzleteile: Wie sie ins Bett gegangen war. Wie sie versucht
hatte, so lange wie möglich wach zu bleiben, aus Angst, die
Stimmen könnten wieder kommen.
Die Stimmen und die Träume.
Sie waren gestern Nacht wieder gekommen. Falls es
wirklich erst vergangene Nacht gewesen war; so wie sie sich
im Moment fühlte, kam es ihr vor, als hätte sie seit Tagen nicht
mehr richtig geschlafen. Aber die Träume waren gekommen,
schlimmer als je zuvor. Da waren lauter Leute um sie herum
gewesen, die sie hochgehoben und auf –
Auf eine Trage gelegt hatten! Die gleiche, auf der sie jetzt
noch lag? Wie war das möglich? Also träumte sie!
Immer mehr Teilchen fügten sich in das Bild: Sie erinnerte
sich, dass man Schläuche in ihre Nase, ihren Mund und –
Die Erinnerung daran ließ sie leise wimmern, und sie zuckte
zusammen, als sie wieder die schmerzhaften Stiche der Nadeln
fühlte, die man ihr in die Arme, die Beine, die Brust und den
Bauch getrieben hatte.
Das Wimmern steigerte sich zu einem Schmerz- und
Angstschrei.
Und einen Lidschlag später antwortete ein Geräusch – das
gleiche Geräusch, das sie den lockenden Armen des Schlafs
entrissen hatte. Sie verdrehte den Kopf, und jetzt konnte sie im
grauen Zwielicht eine Gestalt ausmachen, die ein paar Schritte
entfernt ebenfalls auf einer Bahre lag.
»I-ist jemand –«, begann sie, doch die Kraft verließ sie, ehe
sie die Frage ganz aussprechen konnte. Sie glaubte, eine
winzige Bewegung wahrgenommen zu haben, doch in diesem
trüben Licht hätte sie sich auch getäuscht haben können. Mit
einem leisen Seufzer drehte sie den Kopf wieder zurück,
schaute nun senkrecht in die Höhe.
Und tauchte wieder in ihre Erinnerung ab.
Da waren Leute um sie herum – sie kannte die Gesichter,
doch irgendwas stimmte nicht mit ihnen. Sie sahen alle viel
jünger

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