Mitternachtsstimmen
schnürte ihr
schier die Kehle zu, doch Laurie zwang sich dazu, die Portion
hinunterzuschlucken.
Ihr folgte eine zweite, dann eine dritte.
Bei der vierten Portion schluchzte Laurie, und bei der
fünften war sie sicher, dass sie sterben würde, wenn sie noch
einen Schluck von diesem scheußlichen Schleim trinken
müsste.
Und gleich darauf befiel sie eine ganz andere Angst.
Sie begann sich davor zu fürchten, vielleicht doch nicht
sterben zu müssen.
36. Kapitel
»Ich will endlich wissen, wo Laurie ist!«, zeterte Ryan. Die
Fäuste in die Hüften gestemmt, funkelte er Melanie
Shackleforth wutentbrannt an.
»Das habe ich dir bereits gesagt«, gab Melanie zurück, mit
sehr viel mehr Geduld in der Stimme, als sie verspürte. »Sie
verbringt den Abend und die Nacht mit einer ihrer
Freundinnen.«
»Mit wem denn?«, fragte Ryan angriffslustig.
Melanies Augen wurden schmal, und sie presste die Lippen
aufeinander. Es hatte Zeiten gegeben –, wo man Kinder sah,
aber nicht hörte; und Rotznasen wie diesem Ryan Evans gab
man eine schallende Ohrfeige, damit sie lernten, wie sie sich zu
benehmen hatten. Aber heute war eine andere Zeit, und
Anthony Fleming hatte ihr strikte Anweisungen gegeben, den
Jungen unter keinen Umständen zu schlagen, ganz gleich, wie
anmaßend und frech er auch sein mochte. Doch wenn der Kerl
noch lange so weitermachte …
»Das wissen Sie nicht, stimmt’s?«, höhnte Ryan, der die Wut
in ihren Augen lodern sah. »Sie wissen es nicht, weil Sie mich
anlügen!« Er trat näher zu ihr hin und hob die Stimme:
»Lügnerin! Lügnerin! Lügnerin!«
Melanies Wut, die sie den ganzen Nachmittag über in Zaum
gehalten hatte, war kurz davor, überzuschäumen. Sie hätte ihn
in seinem Zimmer eingesperrt lassen sollen – wie Anthony es
angeordnet hatte –, doch als er gebettelt hatte, er müsse
dringend auf die Toilette, hatte sie sich erweichen und
Anthonys Anordnung außer Acht gelassen. Bis vor ein paar
Minuten hatte er sich ja noch ganz anständig benommen. Doch
jetzt wurde ihr klar, dass Anthony mit dem Zimmerarrest ganz
Recht gehabt hatte. Virginia Estherbrook hätte genauso
gehandelt. Aber Virginia Estherbrook gab es nicht mehr, und
Melanie Shackleforth – ein Name, der ihr inzwischen sogar
besser gefiel als »Virginia Estherbrook« – beabsichtigte sehr
viel moderner zu sein. Doch Ryan machte es ihr nicht leicht.
»Lügnerin, Lügnerin, Lügnerin!«, sang Ryan jetzt, und zwar
mit einer derart spöttischen Stimme, die Melanies Zorn über
die Grenzen hinaustrieb, die Anthony ihr gesetzt hatte. Ehe sie
noch wusste, was sie tat, holte sie aus und versetzte Ryan eine
solche Ohrfeige, dass ihr die Hand brannte.
Wutentbrannt und mit einem lauten Schrei stürzte Ryan sich
auf sie, fuhr ihr mit den Fingernägeln durchs Gesicht und riss
sie an den Haaren. Melanie kreischte auf, als sich ein kleines
Büschel Haare von ihrer Kopfhaut löste, doch gleich darauf
hatten ihre Finger die seinen gepackt und mit sehr viel mehr
Kraft, als sie seit Jahren verspürt hatte, begann sie, seine Finger
einen nach dem anderen aufzubiegen und ihre Haare aus
seinem Griff zu befreien. »Wie kannst du es wagen!«, zischte
sie. Sie packte ihn am Handgelenk, zerrte ihn die Treppe
hinauf, den Flur entlang, schob ihn in sein Zimmer und verriegelte die Tür hinter ihm. »Du kommst da erst wieder raus,
wenn du ein paar Manieren gelernt hast, mein Freundchen!«,
rief sie durch die dicke Mahagonitür. »Dein Stiefvater hatte
absolut Recht!« Ohne eine Antwort abzuwarten, lief sie nach
unten in die Gästetoilette neben der Bibliothek. Sie drehte das
Licht an und musterte sich im Spiegel.
Ihre Wangen – die Knochenstruktur sah so makellos aus wie
noch nie unter der jungen Haut, die ihr Anteil an Rebecca
Mayhew gewesen war – waren von tiefen Kratzern zerfurcht,
wo Ryans Nägel sich in ihr Fleisch gegraben hatten. Einen
Moment lang überfiel sie Panik, doch dann erinnerte sie sich,
dass das frische junge Haut war, die rasch heilen würde. Es
würden noch Jahrzehnte vergehen, bis ihre Haut wieder dem
Zahn der Zeit erliegen würde. Doch als sie ihr Haar genauer
betrachtete – das wunderbar dichte Haar, wie sie es seit
zwanzig Jahren nicht mehr gehabt hatte –, glitzerten Tränen in
ihren Augen. Der Junge hatte daran gerissen, und jetzt blutete
ihre Kopfhaut. Aber ich bin wieder jung, beruhigte sie sich. Es
wird heilen. Es wird alles verheilen. Und wenn der Junge erst
einmal
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