Mitternachtsstimmen
er auf einer rechts neben
dem Eingang in die Mauer eingelassenen Messingplatte, so
diskret, dass sie Oberholzer nicht aufgefallen war, als er das
Gebäude von der gegenüberliegenden Straßenseite aus
betrachtet hatte. Die Tatsache, dass er das Messingschild
übersehen hatte, sagte ihm zweierlei: Erstens, dass das Biddle
Institut nicht an Laufkundschaft interessiert war, und zweitens
– und das war noch wichtiger –, dass er nachlässig wurde. Vor
ein paar Jahren wäre ihm das nicht passiert.
Und er stellte sich die Frage, was ihm wohl sonst noch so
alles entging, wenn er das Schild nicht gesehen hatte.
Sein Magen grummelte eine Antwort, die seine Stimmung
nicht zu heben vermochte. Daraufhin angelte er in seiner
Tasche nach den Magnesiumpillen, in der vagen Hoffnung, sie
mögen die Abwehrreaktion seines nervösen Magens auf das
Pastrami-Sandwich, das er ihm vor einer Stunde zugemutet
hatte, besänftigen. Zumindest für ein paar Minuten brannte
daraufhin das Feuer in seinem Magen auf etwas niedrigerer
Flamme. Oberholzer stieg die Stufen hinauf, suchte die Klingel
und drückte dann gegen die Tür. Zu seiner Überraschung
öffnete sich diese, und er betrat ein Vestibül, das das Foyer
eines dieser kleinen Hotels an der Upper East Side hätte sein
können, wo man nie sicher war, ob man sich in einem Hotel
oder aber einem dieser überteuerten Altenheime befand.
Die Einrichtung des Vestibüls – Oberholzer hätte seinen
Kopf darauf verwettet, dass man es hier nicht Wartezimmer
nannte – entstammte demselben Jahrgang wie das Gebäude
selbst, und wenn er sich nicht täuschte, waren die Möbel auch
keine Repliken, sondern Originale. Gleich rechts neben dem
zweiten Türenpaar, das das Innere des Gebäudes von den
Blicken jedweder Besucher abschirmte, saß eine Dame
mittleren Alters hinter einem Schreibtisch. Die in ein dunkelblaues Kostüm über einer weißen Plissee-bluse gewandete
Dame hob bei Oberholzers Eintreten den Kopf, ihre Miene eine
perfekte Maske der Ausdruckslosigkeit, von einem Hauch
Neugier durchzogen.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Oberholzer zückte seine
Dienstmarke, was seinem Gegenüber nicht einmal ein
Zwinkern entlockte, und stellte sich vor. Das brachte ihm nur
die Wiederholung der vorigen Frage ein, gefolgt von einer
erneuten heftigen Säureattacke auf seine Magenwände. »Und
was kann ich nun für Sie tun, Sergeant Oberholzer?« Hatte sie
die Marke überhaupt nicht beeindruckt?
»Ich bin hier, um eine Patientin zu besuchen«, brummte er.
»Caroline Fleming?«
»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein«, erwiderte die
Frau mit einem Gleichmut, der Flammen aus der Glut in
seinem Magen schlagen ließ.
Oberholzer suchte ihren Schreibtisch nach einem Namensschild ab, fand aber keines. »Und Sie sind –?«, begann er und
ließ den Rest der Frage in der Luft hängen.
»Ms. Nelson.«
»Und Ihre Position ist –?«
»Empfang.«
Oberholzer holte tief Atem und ließ ihn langsam entweichen,
doch die Luft in seinen Lungen trug nicht dazu bei, das Feuer
in seinem Magen zu kühlen. Im Gegenteil, jetzt spürte er, wie
ihm die Magensäure die Speiseröhre hochstieg. Im Fernsehen
arbeiteten die Empfangsdamen stets mit den Cops zusammen –
man sah nur die Bosse mauern. »Und obliegt es der
Verantwortung der Empfangsdame zu entscheiden, was
möglich ist und was nicht?«
Die Nelson zuckte mit keiner Wimper, doch plötzlich öffnete
sich eine der inneren Türen und ein Mann trat heraus, ungefähr
im gleichen Alter wie die Empfangsdame und auch ebenso
konservativ gekleidet, mit dem Unterschied, dass sein perfekt
geschnittener Anzug von einem so dunklen Blau war, dass er
beinahe schwarz wirkte. »Ich bin Harold Caseman«, sagte er
und kam mit ausgestreckter Hand auf Oberholzer zu. »Was
kann ich für Sie tun?«
Ein Summer, dachte Oberholzer, während er abermals seine
Dienstmarke vorzeigte. Ms. Nelson mit der ausdruckslosen
Miene und dem Fuß auf dem Summer. »Ich würde gern eine
Ihrer Patientinnen besuchen«, sagte er laut. »Caroline
Fleming.«
Casemans Braue krümmte sich sorgenvoll. »Zunächst einmal
möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass wir unsere
Klienten nicht als Patienten bezeichnen; und was den Besuch
angeht, da haben wir leider ganz klare Regeln –«
»Das NYPD ebenfalls. Mr. Caseman.«
»Doktor Caseman«, korrigierte ihn der andere.
»Aber einer ohne Patienten«, hakte Oberholzer nach. »Und
daraus folgere ich, dass es demnach
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