Mitternachtsstimmen
nahm und sich selbst an die Arbeit
machte.
Der dritte Schlüssel passte, und Ryan zog die Tür auf. Der
Korridor, durch den er vor nicht allzu langer Zeit vom anderen
Ende her geschlichen war, lag vor ihm, und in der Mitte sah er
die Tür, hinter der Laurie lag.
Wenn sie noch dort war.
»Beeil dich«, drängte Caroline, als Ryan den Schlüssel in die
zweite Tür steckte. Jetzt zitterten auch ihm die Hände, als er
die Tür aufsperrte und schließlich aufstieß.
»Dort drin«, sagte er, knipste die Taschenlampe an und
richtete sie auf Laurie.
Als Caroline blindlings durch den Raum stolperte,
registrierte sie die Krankenbahren nur am Rande, die an einer
Seite aufgereiht waren. »Laurie!«, schrie sie, unfähig, ihre
Stimme länger unter Kontrolle zu halten. »LAAAURIIE!«
Der Name ihrer Tochter hallte eine Weile durch den düsteren
Raum, dann erstarb er, und in der folgenden Stille wurde
Caroline von einer Hoffnungslosigkeit gepackt, die sie zu
ersticken drohte. Es stank so schrecklich nach Tod, dass sie
sich fragte, ob in einem dieser Körper, die auf den Bahren
lagen, überhaupt noch Leben sein mochte. Und als der
allerletzte Hoffnungsschimmer verblasste, hörte sie etwas.
Eine Stimme, ganz schwach, ganz leise.
»M-mom?«
»Sie ist dort drüben.« Ryan deutete auf eine Bahre, die ein
wenig abseits von den anderen stand. Einen Moment später
blickte Caroline in das bleiche Gesicht ihrer Tochter,
streichelte ihr über die Stirn, und ihre Tränen tropften auf
Lauries Wangen.
»Holt mich hier raus«, wimmerte Laurie. »Sie kommen
zurück. Sie werden –«
Doch Caroline hatte sie schon von der Trage gehoben und
rannte mit Laurie auf den Armen zur Tür.
Ryan lief ihnen nach, doch dann fiel ihm der Junge ein, den
er auf der Bahre neben Laurie gesehen hatte, und begann nach
ihm zu suchen. Er fand ihn auch gleich, doch ein Blick sagte
ihm alles, was er wissen wollte: Die Augen des Jungen standen
offen, blickten senkrecht in die Höhe, doch in ihnen war eine
seltsame Leere.
Die gleiche Leere, die Ryan in Tonys Augen gesehen hatte.
Die Leere des Todes.
»Es tut mir Leid«, wisperte er. »Ich –« Er begann zu
schluchzen.
»Ryan!«, hörte er seine Mutter schreien. »Komm, schnell!«
Nach einem letzten Blick auf den toten Jungen wandte Ryan
sich ab und rannte hinter seiner Mutter her.
Er lief den Korridor entlang und zu der Tür, die in den Keller
führte. Er war noch gut zehn Meter von der Tür entfernt, als
plötzlich das Licht anging, und er eine Stimme hörte.
Die Stimme seines Stiefvaters.
»Ryan!«
Eine Schrecksekunde lang blieb Ryan wie erstarrt stehen,
doch dann schrie seine Mutter: »Lauf! Lauf so schnell du
kannst!«
Ihre Stimme brachte ihn wieder zu sich, und er lief weiter.
Hinter sich hörte er die Schritte seines Stiefvaters, die immer
lauter wurden. Wieder rief Tony seinen Namen und jetzt war er
so dicht hinter Ryan, dass dieser seinen Atem im Nacken
spürte. Doch diesmal lähmte ihn seine Stimme nicht wie ein
Kaninchen das Scheinwerferlicht eines Lastwagens; diesmal
spornte sie ihn an, und gerade als er Tonys Finger auf der
Schulter spürte, stürzte er durch die Tür.
Caroline stand schon bereit, um die Tür hinter Ryan
zuzustoßen. Für einen Moment spürte sie einen Widerstand,
ehe die Tür ms Schloss fiel, und wieder reagierten die beiden
blitzschnell: Ryan warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen
die Tür und Caroline drehte den Schlüssel um, der bereits im
Schloss steckte.
Hinter der Tür erhob sich ein wütendes Geschrei, doch
Caroline kümmerte sich nicht darum, hob Laurie wieder hoch
und lief die Treppe hinauf. Und wieder kam Ryan nicht gleich
hinterher. Er stand wie angewurzelt vor der Tür und starrte auf
den Fußboden. Caroline folgte seinem Blick und begann zu
schlucken.
Auf dem Boden neben dem Türstock lagen vier abgetrennte
Finger, die sich noch reflexartig krümmten, als wollten sie
nach ihrer Beute greifen.
»Nicht!«, rief Caroline, als Ryan sich über die Finger beugte,
um sie sich aus der Nähe anzusehen.
Doch als dann wieder einer der Finger zuckte, sprang er
zurück und rannte weiter.
Gleich darauf stürzten sie durch die Tür in die Halle, und
jetzt lief Ryan voraus und hielt die große Eingangstür auf,
damit Caroline Laurie nicht absetzen musste. Draußen auf dem
Gehsteig wandte sie sich nach Süden und blieb dann kurz
stehen. »Hast du Geld dabei?«, fragte sie Ryan, als sie die 65.
Straße überquerten. Ryan schüttelte den Kopf. Caroline fluchte
leise und überlegte, was sie
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