Mitternachtsstimmen
Und da stand er, neben ihrem Bett, und starrte sie
aus ängstlichen Augen an.
»Ryan!«, schrie sie auf. »Wo –«
Doch ehe sie den Satz zu Ende sprechen konnte, hatte Ryan
seine Hand auf ihren Mund gedrückt, um sie zum Schweigen
zu bringen.
»Sch! Willst du, dass sie mich erwischen?«
Caroline schaute ihn verwirrt an. Erwischen? Wovon redete
er? Er konnte doch nicht hereingekommen sein, ohne dass ihn
jemand gesehen hatte. Außer –
»Wie spät ist es?«, wisperte sie.
»Kurz nach elf«, antwortete Ryan. »Steh auf! Wir müssen
Laurie helfen!«
Laurie! Das letzte Bild ihrer Tochter erstand in ihrer
Erinnerung, und der Schmerz darüber trieb ihr die Tränen in
die Augen. Aber sie drängte sie zurück. »Schlag die Decke
zurück und mach die Riemen von meinen Handgelenken los«,
forderte sie Ryan auf, der sie nur verständnislos anschaute.
»Sie haben mich ans Bett gefesselt«, flüsterte sie.
Ryan tat wie ihm geheißen und starrte fassungslos die
Nylonriemen an, die um die Handgelenke seiner Mutter
geschlungen waren. Einen winzigen Augenblick zögerte er,
doch dann löste er die Schnallen, die die Riemen hielten.
In Windeseile, die beiden wie eine Ewigkeit vorkam, war
Caroline frei. Sie setzte sich auf und wollte die Beine aus dem
Bett schwingen, als ein Geräusch sie aufhorchen ließ.
Ein Schlüssel, der in ihr Türschloss geschoben wurde!
»Versteck dich!«, wisperte sie, und da ließ sich Ryan auch
schon zu Boden fallen und kroch unters Bett, auf die der Tür
abgewandten Seite. Gleichzeitig zog Caroline die Decke bis
unters Kinn hoch und ließ den Kopf in die Kissen fallen. Als
sie das Schloss aufschnappen hörte, hatte sie die Augen
geschlossen und konzentrierte sich darauf, ruhig und
gleichmäßig zu atmen.
Schritte näherten sich dem Bett, und dann stand jemand
neben ihrem Bett.
Sie spürte, dass die Person sie ansah.
Dann wurde ihre Decke ganz vorsichtig, als wollte man sie
nicht aufwecken, zurückgeschlagen. Doch wer immer sie
aufdeckte, würde gleich bemerken, dass ihre Arme nicht mehr
fixiert waren.
Der Gedanke starb, als die Decke sich nicht weiter bewegte,
und sie etwas Kaltes in der rechten Armbeuge spürte.
Ein mit Alkohol getränkter Tupfer!
Wer immer das war, wollte ihr eine Injektion geben! Und
wenn das geschah –
Caroline fuhr hoch und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht
auf die Person, die an ihrem Bett stand. Total überrascht von
dem unerwarteten Angriff stolperte diese nach hinten, verlor
das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.
»Hilf mir!«, zischte Caroline so laut sie sich traute und warf
sich auf die Frau am Boden, die sich wieder hochrappeln
wollte.
Sofort kam Ryan unter dem Bett vor, und während Caroline
mit der Frau rang und versuchte, sie am Boden zu halten,
schnappte er sich ein Kissen vom Bett, warf es der Frau aufs
Gesicht und legte ich dann mit seinem ganzen Gewicht darauf.
Verzweifelt wand sich die Frau und trat um sich, versuchte
sich von Caroline und Ryan zu befreien.
Doch beide hielten sie fest, ohne dabei ein Wort zu sprechen.
Das Schweigen dehnte sich, doch nach etwa einer Minute
wurde das Treten und Zappeln schwächer und bald darauf
bewegte sich die Frau nicht mehr.
»I-ist sie tot«, wisperte Ryan. Seine Stimme zitterte.
Langsam und bereit, sich sofort wieder auf die Frau zu
stürzen, sollte sie auch nur mit der Wimper zucken, hievte sich
Caroline auf Hände und Knie.
Es war eine Krankenschwester in der gleichen Uniform wie
die Schwester, die ihr vor ein paar Stunden die Pillen gegeben
hatte, die sie ausgespuckt hatte. Caroline griff nach ihrem
schlaffen Arm, um den Puls zu fühlen.
Zuerst spürte sie nichts, doch dann pochte es ganz leicht
unter ihren Fingerspitzen.
»Sie lebt«, wisperte sie Ryan zu. »Hilf mir!« Sie zog eine
Hand voll Kleenex aus der Packung auf ihrem Nachttisch und
stopfte sie der Schwester in den Mund. »Schau mal in den
Schrank, ob du was zum Fesseln findest.«
Eine Sekunde später hielt Ryan ihr den Morgenmantel hin,
den sie getragen hatte, als sie Tony und seine Freunde entdeckt
hatte –
Sie verwarf den Gedanken und konzentrierte sich ganz auf
das gegenwärtige Problem. Nachdem sie den Gürtel aus den
Schlaufen gezerrt hatte, wickelte sie ihn der Schwester ein paar
Mal um den Kopf und verknotete ihn dann ganz fest über dem
Mund, damit sie den Knebel aus Taschentüchern nicht
ausspucken konnte.
»Und wenn sie erstickt?«
Caroline ignorierte die Frage. »Hilf mir, sie auszuziehen.
Fang mit den
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