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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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Sie waren jetzt kurz vor der Central Park
West, und als Ryan den Arm hob, um im Licht der nächsten
Straßenlaterne das Zifferblatt zu erkennen, warf Caroline rasch
einen Blick über die Schulter und stellte erleichtert fest, dass
ihnen niemand folgte.
»Zwanzig vor zwölf«, sagte Ryan.
Caroline beschleunigte das Tempo ein wenig, und Ryan
musste fast rennen, um mit ihr Schritt zu halten, beklagte sich
aber mit keinem Wort. Eine Viertelstunde vor Mitternacht
standen sie schließlich auf dem Gehsteig gegenüber des
Rockwell. Sie blickte zu dem Gebäude hinauf, und alles sah so
aus wie sonst: Hinter ein paar Fenstern brannte noch Licht,
doch die meisten waren dunkel, als hätten sich die Bewohner
bereits zu Bett begeben.
Aber sie lagen keineswegs im Bett, wusste Caroline. Sie
waren hellwach und schlichen durch die geheimen Gänge
hinter den Wänden ihrer Wohnungen und machten sich bereit
zu einem grausamen –
Caroline erschauderte und verscheuchte diesen schrecklichen
Gedanken. »Gib mir dein Messer«, sagte sie leise.
Ryan, der nicht einmal daran dachte, seiner Mutter zu
widersprechen, griff in die Tasche, zog das Messer, das ihm
sein Vater geschenkt hatte, heraus und legte es schweigend in
die offene Hand seiner Mutter.
Caroline klappte die längste Klinge heraus und testete an
ihrem linken Unterarm vorsichtig deren Schärfe. Alles, was sie
spürte, war ein leicht kribbelndes Gefühl, als die feinen
Härchen abfielen. Gott sei Dank habe ich es ihm nicht
weggenommen, dachte sie, während sie die Klinge wieder
einklappte und das Messer in die Tasche der Schwesternuniform gleiten ließ. Doch noch ehe sie das Messer losgelassen
hatte, änderte sie ihren Entschluss.
Sie zog es wieder heraus und öffnete es.
»Alles klar«, sagte sie leise. »Gehen wir.«
Sie überquerten die Straße und standen vor dem
Eingangsportal des Rockwell. Caroline zog eine der schweren
Türen auf, trat hindurch und spähte durch die Glastür.
Rodney war auf seinem Posten, wie immer eine Zeitung vor
sich.
Er schläft nie, ging es ihr durch den Sinn, als sie mit der
linken Hand die Glastür aufzog, während sie mit der rechten
den Griff des Taschenmessers umklammerte. Er sitzt immer da.
Schläft nie ein. Ich hätte es wissen müssen … Als die Tür
aufging, sah er hoch und blinzelte einen Moment lang etwas
verdutzt.
Caroline stand schon fast vor seinem Tisch, als sie sah, wie
er allmählich begriff, und als er dann zum Telefon greifen
wollte, war sie schon bei ihm. In dem Moment, als seine Finger
sich um den Hörer schlossen, schlossen sich die ihren um seine
Krawatte.
Erschrocken ließ er den Hörer los, der scheppernd zu Boden
fiel.
Er wollte sich losmachen, doch Caroline, der ihre Wut und
die Angst um die Kinder ungeahnte Kräfte verliehen, war viel
schneller als er. Sie zog an seiner Krawatte, zerrte ihn halb
über den Tisch zu sich hin, riss dann die rechte Hand hoch,
stieß ihm die Klinge mitten in den Hals und schlitzte ihm mit
einer blitzschnellen Seitwärtsbewegung die Kehle auf.
Beinahe gleichzeitig quoll der Gestank nach verwesendem
Fleisch aus der offenen Wunde. Rodneys Atem ging nur noch
pfeifend, als er versuchte, durch die perforierte Luftröhre Luft
zu holen. Er streckte die Hände nach Caroline aus, die Finger
zu gierigen Klauen gekrümmt, doch die Knöchel schwollen
bereits arthritisch an, und seine krallenartigen Fingernägel
verfärbten sich schwarz und fielen nacheinander ab. Lange
bevor er sie berühren konnte, verloren seine Arme und Hände
ihre Kraft, und seine Beine knickten unter seinem Gewicht ein.
Als der verwesende Körper zu Boden fiel, war Caroline mit
drei Schritten bei ihm, beugte sich über den Sterbenden und
suchte seine Taschen nach den Schlüsseln ab. Sie fand sie, als
ein letzter Atemzug durch Rodneys Körper rasselte. »Schnell«,
rief sie Ryan überflüssigerweise zu, denn der war ihr schon ein
paar Schritte voraus, hatte die Kellertür aufgerissen und
polterte die Treppe hinunter.
Kreuz und quer rannten sie durch den Keller, suchten
verzweifelt nach der Tür, die Ryan seiner Mutter auf dem Weg
ins Rockwell beschrieben hatte; die Tür ohne Schlüsselloch
und Türknauf auf der Innenseite. Hinter dem großen
Heizkessel fanden sie sie.
Sie war mit Eisenblech beschlagen und besaß nur ein
Schlüsselloch und einen einfachen Griff, an dem man die Tür
aufziehen konnte. Aufgeregt begann Caroline die Schlüssel zu
probieren, doch ihre Finger zitterten so sehr, dass Ryan ihr den
Schlüsselbund aus der Hand

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