Mitternachtsstimmen
Treppenabsatz ankamen – groß genug für ein Sofa und zwei
Polstersessel – betrachtete Rebecca die dunklen Bücherregale,
die vom Boden bis zur Decke reichten, und die Leiter auf
Rollen, die oben an einer Messingschiene befestigt war und
sich über die ganze Bücherwand verschieben ließ, damit man
auch an die höchsten Regale reichte. »Diese Wohnung ist ja
riesig«, wisperte sie ehrfurchtsvoll. »Sie ist mindestens doppelt
so groß wie die von Tante Alicia und Onkel Max.«
Sie gingen den langen, breiten Korridor entlang und kamen
schließlich zur letzten Tür auf der rechten Seite. Als Laurie sie
aufstieß, quiekte Rebecca vor Aufregung: »Es liegt genau unter
meinem Zimmer. Da können wir Sachen mit einem Korb an
einer Schnur rauf und runter lassen!«
Aber Laurie hörte ihr kaum zu, sondern schaute sich
sprachlos vor Erstaunen in dem großen Zimmer um. Die Decke
war mindestens dreimal so hoch wie Laurie groß. In der Mitte
des Raumes hing ein bronzener Kristalllüster, und an einer
Wand stand ein Himmelbett mit vier Pfosten und schweren
violetten Vorhängen. Als sie den altmodischen Knopf drückte,
um den Lüster anzuschalten, gab er kaum genug Licht, um die
Düsterheit aus dem ungeheuer großen Raum zu vertreiben.
Zudem schien das bisschen Licht von den dunklen Stofftapeten
aufgesaugt zu werden, die inzwischen an den Säumen
aufklafften und den schimmeligen Putz darunter sehen ließen.
Als Laurie die wellige Tapete berührte, zerkrümelte sie unter
ihren Fingern, und ein kleines Stück von dem Verputz
bröckelte ab.
Abgesehen von dem Himmelbett stammte die übrige
Einrichtung aus ihrem alten Zimmer. Der Kleiderschrank, der
darin so groß gewirkt hatte, kauerte sich jetzt an die Wand und
sah so klein und verlassen aus, als sei es ihm unangenehm, in
so einem großen Raum zu stehen.
Ihr Schreibtisch und der dazu gehörige Stuhl wirkten
genauso verloren wie der Schrank.
Den machte Laurie auf und stellte fest, dass ihre ganzen
Kleider bereits eingeräumt waren und nicht einmal ein Viertel
des geräumigen Möbelstücks füllten. Auch ihre Schuhe
nahmen nur eines von sechs eigens dafür vorgesehenen
Fächern ein.
Und obwohl sie alle ihre Sachen um sich hatte, und das neue
Zimmer so viel größer war als sie es sich je hatte träumen
lassen, hätte Laurie Evans am liebsten geheult.
12. Kapitel
Es war später Nachmittag, als Caroline die Tür hinter dem, wie
sie hoffte, Letzten der Gäste schloss, die eben nur mal kurz
hatten vorbeischauen wollen, und sie sich fühlte, als hätte sie in
den letzten zwei Wochen hart geschuftet und nicht faul an
einem Karibikstrand gelegen. Und der morgige Tag und das
Wochenende würden noch schlimmer werden, denn am
Montag fing die Schule wieder an, weshalb sie auch darauf
bestanden hatte, am Donnerstag zurückzufliegen und nicht erst
am Sonntag. »Ich brauche den Freitag und das Wochenende,
basta«, hatte sie Tony erklärt, der beinahe genauso inständig
gebettelt hatte wie die Kinder, noch ein bisschen länger zu
bleiben. »Wir fliegen am Donnerstag zurück, und jetzt möchte
ich keine Klagen mehr hören, von keinem von euch.« Doch
von dem Moment ihrer Ankunft an, als Rebecca Mayhew die
Treppe herabgerannt kam, noch ehe sie die Wohnungstür
aufgeschlossen hatten, war der Besucherstrom nicht mehr
versiegt – es war, als zöge ein Magnet die Menschen zu ihrer
Tür. Nach Rebecca kamen Alicia und Max Albion,
entschuldigten sich überschwänglich für Rebeccas Überfall,
brachten aber eine große Terrine mit, der ein entschieden
sonderbarer Geruch entströmte.
»Das ist nur eine Hühnersuppe«, erklärte Alicia
entschuldigend. »Und ich weiß, dass es heute recht warm ist,
und Sie sie vielleicht gar nicht mögen, aber sie ist meine
Spezialität, und ich konnte nicht widerstehen, Ihnen einen Topf
davon zu kochen. Wenn sie Ihnen nicht schmeckt, dann
schütten Sie sie einfach weg – das tun die anderen gewiss
auch.«
»Niemand schüttet deine Suppe weg, und das weißt du«,
versicherte Max seiner Frau, während Caroline die Terrine
entgegennahm. »Alicias Hühnersuppe ist berühmt. Und hier
habe ich noch etwas für den Jungen.«
Ryan, der den beiden Mädchen nicht hinauf ins obere
Stockwerk der Maisonnette-Wohnung gefolgt war, rückte
näher an seine Mutter heran und schob seine Hand in die ihre,
während er misstrauisch die Plastiktüte mit dem SportsAuthority-Logo beäugte, die Max Albion ihm hinhielt.
»Ist schon
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