Mitternachtsstimmen
Nun nahm sie das Buch wieder
hoch. »Ich sage dir was – wir lesen einfach beim nächsten
Kapitel weiter, ja?«
Doch Rebecca hörte gar nicht mehr zu. Sie war schon vom
Sessel aufgesprungen, zum Fenster geeilt und versuchte, die
Scheibe hochzuschieben. »Sie sind wieder da!«, rief sie und
mühte sich mit dem Riegel ab. »Tante Alicia, sie sind wieder
da!«
»Wer?«, fragte Alicia, indem sie das Buch zurück auf den
Tisch legte und ebenfalls aufstand.
»Laurie! Laurie und Ryan! Sie sind zurück!« Endlich hatte
sie das Fenster hochgeschoben und lehnte sich hinaus.
»Laurie!«, rief sie. »Laurie! Ich bin hier oben!«
»Vorsicht, Rebecca!«, schrie Alicia, packte das Mädchen um
die Hüfte und zog es vom Fenster weg.
»Darf ich runter zu Laurie?«, bettelte sie. »Bitte!«
Alicia zögerte nur kurz. »Selbstverständlich darfst du«, sagte
sie. »Aber bleib nicht zu lang – sie sind doch eben erst
angekommen.«
Tony Fleming schloss gerade die Wohnungstür im fünften
Stock auf, da kam Rebecca die Treppen heruntergeflogen.
»Laurie! Du bist wieder da! Wie war es? Wie ist Mustique? Du
musst mir alles erzählen! Oh, ich kann mir gar nicht vorstellen,
wie es dort ist.«
»Und was ist mit dem Rest von uns?«, fragte Tony. »Willst
du uns denn nicht begrüßen?«
Rebecca errötete vor Verlegenheit. »Verzeihen Sie, Mr.
Fleming – ich wollte nicht unhöflich sein. Hallo, Mrs. Fleming.
Hi, Ryan.« Noch bevor jemand ihren Gruß erwidern konnte,
hatte sie sich schon wieder an Laurie gewandt. »Kann ich dein
Zimmer sehen?«
Laurie zögerte kurz. Es war erst das dritte Mal, dass sie in
der riesigen Wohnung ihres Stiefvaters war, und das erste Mal
seit der Hochzeit, als sie alle zusammen die Nacht im Plaza
verbracht hatten. Am nächsten Morgen waren sie in die Karibik
geflogen, wo Tony auf der kleinen Insel Mustique ein Haus
gemietet hatte. Das gelb gestrichene viktorianische Gutshaus
mit vielen Stuckornamenten, die eine Seite zum Meer hin
offen, verfügte über einen Meerwasserpool, einen privaten
Strand, einen Koch, ein Hausmädchen und einen Gärtner. Zwei
Wochen lang hatten sie nichts anderes getan als am Pool zu
liegen, Schnorcheln zu gehen oder einen der anderen Strände
zu erkunden und in den Wellen zu spielen. In ihrem Kopf
spukten immer noch die Bilder der Kokospalmen und
Bougainvilleen, die die kleine Insel bedeckten, und jetzt,
wieder zu Hause in der Stadt, war ihr plötzlich alles so fremd
wie vor zwei Wochen auf Mustique. Statt zu ihrer Wohnung an
der 76. Straße waren sie direkt zur Central Park West gefahren.
»Fahren wir denn nicht nach Hause?«, hatte Ryan gefragt,
als die Limousine, die sie am Flughafen abgeholt hatte, an der
71. Straße abgebogen war, anstatt weiter bis zur 77. zu fahren.«
»Wir fahren in unser neues Zuhause«, hatte Caroline erklärt.
»Erinnerst du dich nicht? Deshalb haben wir doch vor der
Hochzeit alles zusammengepackt. Und während wir verreist
waren, ist alles hierher gebracht worden. In unserer alten
Wohnung wohnt jetzt jemand anderes.«
Als die Limousine vor dem Rockwell anhielt und Ryan
nervös die dunkle Fassade hinaufspähte, hatte Laurie sich nur
mit Mühe das Lachen verkneifen können, so offensichtlich war
es, dass ihr Bruder sich wieder an all die Gruselgeschichten
erinnerte, die sie und ihre Freunde ihm im Laufe der Jahre
erzählt hatten. »Na, hast wohl Schiss, hineinzugehen, wie?«,
neckte sie ihn. »Hast Angst, dass der Troll dich schnappt?«
Damit handelte sie sich einen tadelnden Blick von ihrer
Mutter ein, doch Tony lachte nur. »Ich hab mir doch schon
immer gedacht, dass dieser Rodney merkwürdig ist. Jetzt weiß
ich auch warum.«
Obwohl sie ihren Bruder mit diesen Geschichten aufgezogen
hatte, musste sie sich eingestehen, dass es auch ihr selbst nicht
ganz geheuer war, in dieses Gebäude einzuziehen, und als sie
jetzt vor der Wohnungstür stand, wurde ihr zudem bewusst,
dass sie gar nicht wusste, wo ihr Zimmer lag.
Als hätte Tony ihre Gedanken erraten, nickte er mit dem
Kopf in Richtung der breiten Treppe, die von der Diele hinauf
in den ersten Stock führte. »Die Treppe hoch und den Flur
entlang. Dann die rechte Tür.«
Laurie, die Rebecca erwartungsvoll angrinste, sah rasch zu
ihrer Mutter. »Darf ich?«
»Natürlich darfst du«, erwiderte Caroline. »Aber nimm
deinen Koffer mit, ja?«
Zu zweit packten die Mädchen den Koffer, um ihn die
Treppe hinaufzuschleppen, und als sie auf dem riesigen
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