Mittsommerzauber
sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie ihr Versprechen dem Alten gegenüber würde halten können.
Womit er vermutlich völlig richtig lag, wie Eva sich ohne zu zögern sofort eingestand. Sie war ein Stadtmensch und hatte Schafe bisher nur von weitem gesehen, folglich hatte sie keine Ahnung, was sie nun machen sollte. Wie es aussah, hatte sie jetzt nicht nur das Problem wegen der Wolllieferung, sondern obendrein jede Menge anderer Sorgen.
»Na, Akka, wollen wir an die Arbeit gehen?«, fragte sie den Hund. Außer einem kurzen Zucken der Schwanzspitze kam von dem Hund keine Reaktion. Eva schien es beinahe, als sei er ähnlich skeptisch wie vorhin der Arzt.
»Du traust es mir wohl auch nicht zu, wie?« Zögernd ging sie auf den Pferch zu. Hatten die Schafe vorhin, als sie hergekommen war, auch schon so laut geblökt? Ob sie
Hunger hatten? Eva kam sich über alle Maßen dämlich vor, weil sie fast eine geschlagene Minute überlegen musste, was zum Teufel Schafe überhaupt fraßen - so lange, bis sie merkte, was einige der Tiere gerade taten.
»Wiederkäuen«, sagte sie laut, ergrimmt über ihre eigene Dummheit. Natürlich waren Schafe Wiederkäuer und fraßen folglich dasselbe wie Kühe, nämlich Gras.
Im Pferch gab es nicht allzu viel davon. Der Boden war ziemlich kahl und bestand überwiegend aus festem Lehm, genau wie im Stall, nur dass es hier draußen hier und da ein paar Senken gab, in denen sich das Regenwasser der vergangenen Woche zu Pfützen gesammelt hatte.
Die Schafe drängten sich zusammen, und diesmal war nicht zu übersehen, dass sie wirklich unruhiger waren als vorher. Ohne groß nachzudenken, tat Eva das Erstbeste, das ihr in den Sinn kam: Sie öffnete das Tor des Pferchs. Der Bolzen saß ziemlich fest und ließ sich nur mit einiger Kraftanstrengung herausziehen, doch nachdem er einmal draußen war, schwang das Tor problemlos auf. Es war noch nicht ganz offen, als die Tiere sich auch schon wie auf Kommando in Bewegung setzten und auf die Weide hinausdrängten. Ein Leithammel trabte blökend voran und rannte Eva beinahe um in seinem Eifer, an die mit dichten Grasbüscheln bewachsene Fläche außerhalb der Umfriedung zu gelangen.
»Hej«, rief Eva, halb verunsichert, halb belustigt. »Nicht so stürmisch! Ist doch genug für alle da!« Ihre Erheiterung wich indessen wachsender Beklommenheit, und sie überlegte, ob das, was sie da getan hatte, wirklich so praktisch war, wie es ihr eben noch vorgekommen war. Die Schafe waren jetzt zwar draußen, aber mussten sie nach dem Grasen nicht wieder in den Pferch? Was sollte sie tun, wenn sie einfach davonspazierten?
Für den Moment sah es allerdings nicht danach aus, als hätten sie größere Ausflüge im Sinn. Ruhig fressend standen sie da und machten keine Anstalten, sich zu entfernen. Vielleicht lag es auch an Akka. Der Hütehund umrundete die Herde wachsam in einiger Entfernung und tat damit vermutlich das, wozu er ausgebildet worden war: aufpassen. Er musste weder bellen noch beißen, sondern sorgte offenbar allein durch seine Anwesenheit dafür, dass die Schafe in mehreren losen Pulks beisammenblieben.
Fürs Erste beruhigt, glaubte Eva es verantworten zu können, den Schauplatz des Geschehens vorübergehend zu verlassen. Sie musste sich umziehen, aber noch viel dringender musste sie etwas essen. Jemand würde sich schon bereit finden, hier das Nötigste zu tun. Allzu lange konnte es sowieso nicht mehr dauern, bis die Angelegenheit geregelt war, längstens bis heute Abend. Diese Monica hatte zwar vorhin am Telefon nicht sonderlich begeistert geklungen, als sie von dem Zusammenbruch ihres Vaters erfahren hatte, aber sie hatte immerhin versprochen, auf jeden Fall im Laufe des Tages herzukommen.
»Wiedersehen, Akka!«, rief Eva dem Hund zu. Sie kam sich ein wenig albern dabei vor, aber sie fand, er hätte ein kleines Lob verdient. »Du machst das ganz toll!«
*
Wenig später war sie nicht mehr so sicher, ob Akka tatsächlich weiterhin so zuverlässig ihren Job machen würde. Britta tat ein Übriges, um Eva zusätzlich zu verunsichern.
»Du hast die Schafe rausgelassen?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Und hast du dir auch überlegt, wie du sie wieder in den Pferch kriegst?« Sie lag in einem Liegestuhl im Gar-ten, ein Glas Saft in der einen und ein Magazin über sanfte Geburt in der anderen Hand. Die Schwangerschaft verlieh ihr eine beinahe archaische Schönheit. Ihr herzförmiges Gesicht schien von innen heraus zu leuchten, und ihr Haar
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