Mittsommerzauber
getaucht. Zwischen den Bäumen herrschte bereits sanftes Zwielicht, und die Flächen hinter den Gebäuden füllten sich zunehmend mit Schatten.
Eva saß auf einer grob gezimmerten Bank unweit des Pferchs, hatte ein Knie hochgezogen und das andere untergeschlagen. Sie betrachtete abwechselnd die friedlich grasenden Schafe und die von der Abendsonne überstrahlte Umgebung. Ihr war klar, dass sie sich allmählich Gedanken darüber machen sollte, wie sie die Herde in den Pferch zurückschaffen sollte, doch im Moment wollte sie einfach nur hier sitzen bleiben. Sie hatte sich seit langem nicht so gut gefühlt wie in diesem Augenblick, so völlig im Einklang mit sich selbst und der Welt um sie herum. Es war der pure Genuss, die letzten warmen Sonnenstrahlen zu genießen und dabei die ländliche Stille förmlich in sich einzusaugen.
Dann blökte irgendwo ein Schaf, und plötzlich fing Akka an zu bellen und hin und her zu rennen. Eva sprang von der Bank und eilte zu der Herde. Auf den ersten Blick schien alles in Ordnung zu sein, aber Eva zweifelte nicht daran, dass sich das bald ändern würde. Spätestens, wenn es dunkel würde, was nicht mehr allzu lange dauern konnte. Sie wusste, dass sie die Schafe nicht über Nacht auf der Weide lassen konnte. Der Pferch erfüllte schließlich einen Zweck, zur Dekoration war er ganz sicher nicht da.
»He, Akka!«, rief sie. »Hast du nicht Lust, die Herde in den Pferch zu treiben?«
Der Hund kam angesprungen und blieb vor ihr stehen.
»Ja, braves Hündchen«, lobte sie ihn. »Mach deinen Job! Treib sie da rüber!«
Akka sah sie mit schräg gelegtem Kopf an, ohne irgendwelche Anstalten zu machen, ihrem Vorschlag Folge zu leisten.
Eva wartete ein paar Sekunden, doch es passierte nichts. Sie seufzte, dann ging sie auf die Schafe zu und versuchte, sie mit scheuchenden Armbewegungen vorwärts zu treiben. »Los, los! Husch, ins Körbchen!« Zwei oder drei Schafe sprangen zur Seite, doch nach ein paar Metern kamen sie wieder zum Stillstand und grasten stoisch weiter.
»Verflixt, was soll das? Ihr müsst in den Pferch! So viel weiß ich! Oder wollt ihr euch von wilden Hunden fressen lassen?« Sie schob eines der Schafe vorwärts, doch das machte nur einen kurzen Satz und trabte dann in der verkehrten Richtung davon.
Eva schluckte die aufkommende Nervosität herunter und zwang sich zum Nachdenken. Ihr musste etwas einfallen, aber schnell!
Eines der Lämmer, das blökend dem Schaf gefolgt war, das sie vorhin angeschoben hatte, brachte sie auf die rettende Idee. Eva ergriff es und hob es kurz entschlossen hoch.
»Schau mal«, rief sie dem Schaf zu, das am Rand der Herde stehen geblieben war. »Was sagst du jetzt? Dein Baby wird gekidnappt. Willst du das zulassen? Wenn nicht, dann komm hier rüber und folge mir!«
Sie tat ein paar Schritte in Richtung Gatter, und tatsächlich, das Schaf setzte sich in Bewegung und kam herübergetrottet. Nach ein paar Schritten wurde es schneller und löste damit eine Art Kettenreaktion aus: Die anderen Tiere der Herde gerieten ebenfalls in Bewegung und strömten zusammen, um schließlich einträchtig in den Pferch zurückzukehren. Später machte Eva sich klar, dass es vermutlich hauptsächlich Akkas Verdienst gewesen war, die mit vereinzeltem Kläffen und gezieltem Hin- und Herlaufen die Rückkehr der Herde in geordnete Bahnen lenkte, aber in diesem Moment war ihr Triumph über den gelungenen Schachzug grenzenlos. Lachend schob sie den Bolzen ins Schloss und kam sich ziemlich kindisch vor, weil sie so stolz auf ihre Leistung war. Dennoch war es ein gutes Gefühl, das sogar dann noch vorhielt, als sie feststellte, dass sie sich über und über mit Dreck beschmiert hatte, als sie das Lamm weggetragen hatte.
Doch das war nichts, was man nicht mit etwas Wasser wieder in Ordnung bringen konnte. Pfeifend ging sie hinüber zum Haus.
*
David stieg aus dem Wagen und schaute sich um. Sein erster Blick galt den Schafen, doch mit der Herde schien alles in Ordnung zu sein. Die Tiere standen ruhig im Pferch, kauten wieder oder dösten vor sich hin.
Der Hund kam angelaufen und sprang an ihm hoch.
David lachte und tätschelte ihm den Kopf. »Gutes Mädchen! Na, alles in Ordnung, Akka? Wer hat sich heute um die Herde gekümmert, hm?«
Im nächsten Moment hörte er ein Geräusch. Es war ein schwaches und ziemlich falsch klingendes Pfeifen und kam vom Haus her. Zögernd ging David in die Richtung der Geräuschquelle, und als er näher kam, war außer dem Pfeifen
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