Mittsommerzauber
letztes Mal den bereits rettungslos zerknitterten Prospekt aus ihrer Handtasche und betrachtete den weißen Südseekreuzer.
»Na denn«, murmelte sie. »Kommen Sie an Bord.«
Tief durchatmend verstaute sie das Faltblatt wieder in ihrer Tasche und stieß die Tür zu ihrem neuen Leben auf.
*
Der Fahrer des Abschleppwagens war ein geselliger Bursche, und nachdem er erst in Erfahrung gebracht hatte, dass Robert in dem zehn Kilometer entfernten Nachbarkaff eine Zeit lang zur Schule gegangen war, gab es kein Halten mehr. Er selbst, so erzählte der Fahrer, hatte dort einen Cousin, den er in den Sommerferien immer besucht hatte, woraufhin sich prompt herausstellte, dass ebendieser Cousin in derselben Fußballmannschaft wie Robert gespielt hatte. Das ergab genug Gesprächsstoff für den Rest der Fahrt in den Ort, und so war Robert bester Laune, als der Fahrer den Abschleppwagen schließlich rumpelnd auf dem Marktplatz zum Stehen brachte.
Er stieg aus und schaute sich erwartungsvoll um. Es war genau so, wie er es erwartet hatte. Anheimelnd und typisch schwedisch mit den liebevoll dekorierten Holzhäusern und der pittoresken kleinen Kirche im Hintergrund. Es gab einen kleinen Supermarkt, einen Friseur, ein Ärztehaus, einen Laden für Fischereibedarf. Außerdem eine Apotheke in einem aufwändig restaurierten Gebäude, das um einiges älter war die anderen Häuser, und direkt daneben ein Café, das ebenso gut nach Paris oder Rom gepasst hätte mit seinen im mediterranen Stil gehaltenen Tischen und Stühlen.
Eine junge Frau kam mit klappernden Absätzen auf ihn zugerannt. Ihr Gesicht war bleich.
»Das ist doch Annas Auto!« Sie blieb vor Robert stehen, die Blicke auf den Wagen geheftet, den der Fahrer soeben vom Haken ließ. »Was ist ihr passiert? Wo ist sie? Ist sie...«
Die junge Frau verstummte, und Robert sah das Entsetzen in ihren Augen.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er rasch.
»Was ist mit Anna?«
»Sie kennen sie?«
»Ja, klar. Ich bin Silke, ihre beste Freundin. Was ist mit ihr?«
»Es geht ihr gut. Kein Grund zur Sorge. Sie dürfte jetzt schon in Stockholm sein, bei ihrem Vorstellungsgespräch.«
Eine männliche Stimme hinter Robert sagte: »Was für ein Vorstellungsgespräch?«
Robert wandte sich um und sah sich einem Mann in seinem Alter gegenüber, ein hagerer, bebrillter Typ mit sympathischen Gesichtszügen. Er trug einen weißen Kittel und war offensichtlich aus der Apotheke gekommen.
»Anna wollte zu einem Vorstellungsgespräch?«, fragte er abermals.
Robert runzelte die Stirn. »Das sagte sie mir jedenfalls.«
Die junge Frau von dem Café und der Apotheker wechselten befremdete Blicke, und Robert fragte sich, ob er hier vielleicht im Begriff war, etwas gründlich verkehrt zu machen.
»Das haben Sie sicher missverstanden«, sagte der Apotheker. »Ich bin Annas Verlobter, Bertil Svensson. Sie können mir den Wagenschlüssel geben. Ich kümmere mich um das Auto.«
Robert setzte augenblicklich sein Pokerface auf, um seine Enttäuschung zu verbergen. Sie war verlobt. Natürlich war sie das. Wie konnte eine Frau, die so aussah wie sie, auch ungebunden sein? Und dieser Bertil machte ganz den Eindruck, als würde er alles für Anna tun.
Merkwürdig war nur, dass er nichts von ihrem Vorstellungsgespräch wusste.
»Ich hole nur noch schnell mein Gepäck aus dem Wagen«, sagte Robert.
Während er seine Koffer und die Angel auslud, hörte er notgedrungen das Gespräch zwischen Bertil und dem Fahrer des Abschleppwagens mit.
»Was ist mit den Kosten?«, wollte der Fahrer wissen.
Robert wollte sich gerade zu ihm umwenden und klarstellen, dass selbstverständlich er dafür aufkommen werde, doch Bertil war schneller.
»Die übernehme ich natürlich«, sagte er kategorisch.
Robert verkniff sich den Widerspruch, der ihm bereits auf der Zunge lag. Er ahnte, dass es nicht viel bringen würde, denn vermutlich würde Bertil noch an Ort und Stelle seine Brieftasche zücken, um zu verhindern, dass jemand anders als er den Abschleppdienst bezahlte.
Robert schulterte sein Gepäck und verabschiedete sich höflich. Ein paar Ecken weiter hatte er einen Taxistand gesehen, für die letzte Etappe seines Weges war also gesorgt.
Im Weggehen hörte er Silke mit dem Apotheker sprechen. »Wusstest du, dass sie ein Vorstellungsgespräch hat?«
»Alles Quatsch«, meinte Bertil. »Wieso sollte Anna ein Vorstellungsgespräch haben?«
Ja, wieso?, dachte Robert. Dann sagte er sich, dass es ihn nichts anginge, und er
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