Mittsommerzauber
befühlte den Pullover.
»Ihre Wolle, mein Design. Ich bin Textildesignerin, falls
Sie das noch nicht gewusst haben. Finden Sie nicht, dass es gut aussieht?«
Gustav brummte etwas, das ebenso gut eine Zustimmung wie eine Ablehnung sein konnte, doch Eva ließ nicht locker.
»Wir könnten damit eine Menge Geld machen.« Sie streckte die Hand aus und wies auf die Schafe, die auf der Weide grasten. »Natürlich müssen Sie Ihre Herde vergrößern, damit wir auf eine ausreichende Stückzahl kommen, aber ich denke, dass...«
»Ich habe doch gesagt, dass ich kein Interesse habe«, unterbrach Gustav sie. »Ich werde meinen Hof verkaufen.« Eva klappte der Unterkiefer herab. Gustav und verkaufen? Er, der mit allen Fasern seines Wesens an diesem Hof hing, wollte aufgeben? Sie konnte es nicht fassen.
Gustav legte den Pullover zur Seite und stand auf. Er tat ein paar Schritte in Richtung Haus, doch plötzlich zuckte er zusammen und fing an zu taumeln. Ein tiefes Stöhnen entrang sich ihm, und aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen. Eva war aufgesprungen und an seiner Seite, bevor er stürzen konnte, aber er war zu schwer, als dass sie ihn aufrecht halten konnte. Sie versuchte trotzdem, ihn zu stützen, doch er sackte zusammen und glitt an ihr herab, bis er auf dem Boden lag.
»Gustav!«, schrie sie.
Doch er hatte die Augen geschlossen und antwortete nicht.
*
Sie tigerte unruhig auf dem Flur auf und ab, darauf wartend, dass der Arzt wieder auftauchte, um ihr zu sagen, was los war.
Ihre Schritte hallten auf dem Linoleum des Gangs, und hin und wieder hielt sie inne, weil das Geräusch so nervtötend war. Aber noch unerträglicher war es, einfach stillzustehen. Schon das Warten auf die Ambulanz hatte sie fast wahnsinnig werden lassen. Sie hatte das Gefühl, unbedingt in Bewegung bleiben zu müssen, fast so, als könne sie dadurch die Situation für Gustav zum Besseren wenden.
Sie hatte bereits richtig vermutet: Vom Arzt hatte sie erfahren, dass Gustav keineswegs entlassen worden war, sondern eigenmächtig beschlossen hatte, nach Hause zu gehen. Er hatte sich angezogen, seine Tasche geschnappt und war heimlich verschwunden.
Endlich kam der Arzt aus dem Untersuchungszimmer. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. »Wir müssen sofort operieren, jeder weitere Aufschub kann dramatische Folgen haben. Die Bandscheibe drückt so stark auf die Nerven, dass sein Bein bereits erste Lähmungserscheinungen zeigt.«
»Worauf warten Sie dann noch?«
Der Arzt breitete die Hände aus. »Er will nicht. Wir leben in einem freien Land, wissen Sie.«
Eva starrte ihn an. Er erwiderte ihren Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, und sie begriff, dass er es tatsächlich so gemeint hatte, wie er es gesagt hatte. Er würde Gustav nicht gegen seinen Willen operieren, ganz egal, ob der Alte nachher im Rollstuhl saß oder nicht.
Langsam sagte sie: »Ich denke, jemand sollte ihm mal den Kopf zurechtsetzen.«
*
Als sie auf das Bett zuging, schoss ihr durch den Kopf, wie sehr ein Mensch sich durch eine unerwartete Krankheit rein äußerlich so rapide verändern konnte. Gustav wirkte nicht nur hilflos in seiner Schwäche, sondern er schien auch mit einem Mal viel kleiner und älter zu sein als noch vor wenigen Stunden. Zu der Kanüle an seinem Handgelenk führte ein Tropf, über den er schmerzlindernde Medikamente erhielt, und sein Gesicht war nicht mehr ganz so bleich wie vorher. Doch ihm war anzusehen, wie elend er sich fühlte, und Eva ahnte, dass seine Verzweiflung nicht nur körperliche Ursachen hatte.
Ihr war zum Heulen zumute, ihn so hier liegen zu sehen, doch sie zwang sich zu einem munteren Tonfall. »Jetzt hören Sie mir mal zu! Ich bin gerade dabei, mein Leben umzukrempeln! Und das lasse ich mir nicht von Ihnen verderben.«
»Von mir?« Gustav wandte ihr sein Gesicht zu. Unter seinen Augen lagen Schatten, und sein Mund wirkte eingefallen.
»Ich brauche Sie für meine neuen Pläne«, sagte Eva. »Sie haben die besten Schafe mit der besten Wolle! Und die ist gerade gut genug für meine Pulloverkollektion!« Sie hob die Stimme, als könnte sie ihn umso besser überzeugen, je lauter sie sprach. »Sie werden jetzt verdammt noch mal nicht einfach aussteigen! Im Gegenteil! Mensch, Gustav, jetzt geht es doch erst richtig los!« Sie beugte sich über ihn und nahm seine Hand. »Sie dürfen nicht aufgeben!«
Stumm drehte er den Kopf zur Seite und schaute auf die Wand.
Eva ging um das Bett herum, damit er sie wieder
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