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Mittwinternacht

Mittwinternacht

Titel: Mittwinternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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sich den Text in Gedanken schon zurechtgelegt. Er war klar und einfach. Das war immer das Beste; keine Einzelheiten – nicht, dass sie überhaupt fähig gewesen wäre, das alles in Worte zu fassen.
     
    Lieber Herr Bischof,
    nach reiflicher Überlegung, innerer Einkehr und Gebet habe ich mich entschieden, Sie um die Entbindung von meiner vorgesehenen Rolle als Diözesan-Beraterin für spirituelle Grenzfragen zu bitten. Ich habe keinerlei Zweifel daran, dass dies ein bedeutendes Amt für Frauen ist – oder werden wird. Dennoch haben mir einige Vorfälle in letzter Zeit bewiesen, dass ich noch nicht gereift oder erfahren genug bin, um es anzunehmen. Daher halte ich es für richtig, mich still zurückzuziehen, bevor ich eine Belastung für die Kirche werde. Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit und das – wenn auch unangemessene – Vertrauen, das Sie in mich gesetzt haben, und entschuldige mich dafür, so viel von Ihrer wertvollen Zeit vergeudet zu haben.
     
    Mit besten Grüßen
    Merrily Watkins
     
    Der Text stand vor ihr auf dem Bildschirm, und sie las ihn wieder und wieder, bis sie nur noch einzelne Wörter ohne Zusammenhang wahrnahm.
    Sie könnte den Brief ausdrucken und in die Post geben oder ihn als E-Mail schicken. So oder so würde er ihn nicht mehr bekommen, bevor er mit Val nach London fuhr. Sollte sie ihn vielleichtgleich zum Bischofspalast mailen? Das ginge am schnellsten, und ihr bliebe keine Zeit mehr, erneut an ihrer Entscheidung zu zweifeln.
    Sie las den Text noch einmal; es gab nichts hinzuzufügen. Sie suchte die E-Mail -Adresse des Bischofspalastes heraus und tippte sie ein. Allerdings wäre es möglicherweise angemessen, Sophie zu informieren, bevor sie den Text abschickte. Vielleicht würde sie warten, bis Sophie wieder da war, vielleicht auch nicht. Was sie bestimmt
nicht
tun würde, wäre, Huw Owen deswegen anzurufen.
    Sie fischte in ihrer Tasche nach ihrer Zigarettenschachtel und ertastete dabei einen Umschlag. Es war der cremeweiße Umschlag, der in den Briefkasten geworfen worden war, als sie zitternd auf dem Treppenabsatz gestanden hatte. Sie hatte ihn achtlos in ihre Tasche gesteckt, während sie sich mit Jane darüber stritt, ob sie nun fit genug war, um zur Arbeit zu gehen oder nicht – nein, sie hatte keine Erkältung.
Ich bin übergeschnappt, mein Spatz. Ich stehe kurz vor einem Nervenzusammenbruch und foltere mich mit kranken, dämonischen Sexphantasien. Das ist Gottes Art, mir zu zeigen, dass ich nicht dazu geeignet bin, es mit anderer Leute Ängsten aufzunehmen.
Natürlich hatte sie das nicht laut gesagt.
    Sie öffnete den Brief, der in Hereford abgestempelt und an Hochwürden Merrily Watkins adressiert war. Der Absender kam ohne Umschweife zum Punkt.
     
    Sehr geehrte Mrs.   Watkins,
    Sie sollten wissen, dass Ihre Tochter dabei gesehen wurde, wie sie in schamloser Weise ihr Seelenheil gefährdete, und Ihres dazu, indem sie sich mit dem geistig Unreinen eingelassen hat.
    Fragen Sie sie, was sie letzten Samstagnachmittag bei der sogenannten ESOTERIK-MESSE in Leominster zu suchen hatte. Es ist allgemein bekannt, dass solche Veranstaltungen ein Magnet für Mitglieder von Okkultistengruppen sind, die nach Konvertiten suchen. Fragen Sie
sie, wie lange sie sich mit einer Hellseherin ausgetauscht hat, die das Bilderbuch des Teufels benutzt.
    Es missfällt vielen schon lange, dass Ihre Tochter nicht zur Kirche geht, wie es sich für die Tochter einer Pfarrerin gehört. Jetzt wissen wir, warum das so ist.
    Wenn es stimmt, dass Sie ins Amt einer Exorzistin eingesetzt worden sind, sollten Sie vielleicht am besten damit anfangen, die verkommene Seele Ihrer eigenen Tochter zu reinigen.
     
    Der Brief war nicht unterschrieben. Er war im Vergleich zu den üblichen fiesen anonymen Schreiben ziemlich aufwändig. Gewöhnlich war das Papier billig und zerknittert, und während die meisten persönlich und heimlich im Pfarrhaus oder der Kirche in den Briefkasten gesteckt wurden, war dieser hier mit der Post geschickt worden.
    Es war erstaunlich, wie viele anonyme Briefe man in so einer Gemeinde bekam. Allerdings bekamen männliche Pfarrer vielleicht weniger – eine beträchtliche Anzahl dieser Schreiben enthielt nämlich die Botschaft, Merrily solle aufhören, Pfarrerin zu spielen, und sich stattdessen einen Ehemann suchen, wie jede andere normale, anständige Frau auch. Ein- oder zweimal war ihr angeboten worden, ihr das zu verschaffen, was normale, anständige Frauen bekamen und was ihr

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