Mittwinternacht
zitternd, das Feuerzeug anzuschnippen, doch es kam keine Flamme.
«Mom?»
«Was?»
«Mom!»
Ihre Tochter stand am Fuß der Treppe und sah sie erschrocken
an.
Merrily hörte einen einzelnen Brief in den Briefkasten fallen. Der Postbote.
Normalität.
Sie musste husten.
Von wegen.
Weil in die Capuchin Lane wenig Licht fiel, verschlief Lol und wurde erst von den schwermütigen Tönen eines Harmoniums aus dem Laden unten geweckt, zu denen eine tiefe und traurige Frauenstimme sang.
Nico. Klagende, düstere alte Nico-Songs aus den Siebzigern. Unrasiert ging Lol in den Laden hinunter, an Moons Mountainbike vorbei, und traf auf Viv, die neue Geschäftsführerin. Viv war eine schlampige Hippie-Veteranin, mit der Denny schon ewig befreundet war.
«Magst du Nico, Lol?»
«Manchmal.»
«Ich liebe sie», sagte Viv. «Ich weiß, dass sie nicht jedermanns Sache ist. Aber am Freitag wird Moon beerdigt, das ist ein Tag der Trauer.»
«Bis dahin sind es noch drei Tage.» Er wusste nicht, ob Moon für Viv etwas übriggehabt hatte; es konnte gut sein.
«Ich dachte, als Zeichen der Trauer spiele ich diese Musik jeden Morgen eine Stunde lang», verkündete Viv. «Da ist übrigens ein Brief aus London für dich.»
Lol las den Brief bei einem Toast im Eckcafé. Das Schreiben kündigte Geld an – Geld, das er wie üblich fürs Nichtstun bekam. Die geschätzte Norma Waterson wollte auf ihrem nächsten Solo-Album einen seiner Songs singen. Es war
The Baker’s Lament
, der Song über das Sterben der traditionellen Dorfgemeinschaften.
Lol war deprimiert. Nach den Regeln James Lydens sollte er jetzt schon seit mindestens zehn Jahren tot sein. Andererseits – sofern Folk-Musiker nicht von der Regel ausgenommen waren – sollte Norma Watson schon seit mehr als fünfundzwanzig Jahren tot sein. Lol starrte in den Nebel hinaus. Nichts und niemand erwartete ihn an diesem Tag. So weit war es gekommen.
Während Moon, die so begeistert von ihrem Forschungsprojekt gewesen war, so voller Energie … ihr Leben einfach beendet hatte.
Er konnte einfach nicht glauben, dass sie etwas entdeckt haben konnte, das sie zu dem Schluss führte, sie könne die unterbrochene Verbindung zu ihren Ahnen nur wiederherstellen, indem sie zu ihnen ging.
Merrily hatte nichts weiter von sich hören lassen.
Er aß seinen Toast auf und ging in den Laden zurück. Gerade kam ein Kunde heraus, und Lol hörte wieder das endlose Klagelied von der Nico-CD. Es klang – weil Nico ebenfalls tot war – wie eine Anklage aus dem Grab heraus, er sah beinahe einen warnenden Knochenfinger vor sich.
Sophie war am Telefon. «Haben Sie es zweimal überprüft? Ja, natürlich, es tut mir leid. Aber es scheint so …»
Merrily zog ihre Jacke aus, warf sie über die Stuhllehne und setzte sich. Sie würde Sophie vermissen, sie würde sogar das Büromit dem
an der Tür vermissen. Es kam ihr schon fast vor wie ein zweites Zuhause, und zwar ohne die ganzen Probleme, diesie in ihrem ersten hatte.
Sophie legte auf und schob sich eine weiße Haarsträhne hinters Ohr. «Es ist merkwürdig, Merrily, wirklich merkwürdig. Das war George Curtiss. Der Dekan ist außer sich. Sie wissen doch, dass das Cantilupe-Grab diese Woche rechtzeitig zu der Kinderbischof-Zeremonie am Samstag wiederaufgebaut werden sollte, oder? Es ist nicht zu fassen, aber jetzt fehlt ein Teil.»
«Es fehlt ein Teil?»
«Von einem der Seitenpaneele. Sie kennen doch die Seitenpaneele mit den Ritterfiguren. Das sollen Tempelritter sein.»
«Ja, ich weiß.» Sie rief sich die Ritterfiguren ins Gedächtnis, vom Alter mitgenommen, mit zerstörten Gesichtern.
«Tja, eine Figur ist aus dem Paneel herausgebrochen. Vielleicht durch das Alter, oder es gab einen Sprung im Stein. Das Paneel sollte instand gesetzt werden, aber jetzt ist das Stück verschwunden!»
«Jemand hat ein Stück Stein gestohlen?»
«Sieht so aus. Als die Steinmetze die Bestandteile vorbereitet haben, war es verschwunden. Es ist nicht sehr groß, ungefähr einen halben Meter lang – allerdings ziemlich schwer.»
«Also kann man es nicht so einfach in seiner Einkaufstasche verschwinden lassen», sagte Merrily. «Außerdem war doch die Tür in der Trennwand bestimmt immer abgeschlossen, oder?»
«Darum geht es gerade.» Sophie wirkte besorgt. «Offenbar war der einzige Moment, in dem es gestohlen worden sein kann, der, in dem wir alle bei Kanonikus Dobbs waren, nachdem er seinen Schlaganfall hatte.»
«Verdächtigen sie jemanden von
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