Mittwinternacht
Jugendarbeit und solchen Sachen auslasten? Das machen sie, damit sie, falls sie mal denken, es gibt in Wahrheit doch keinen Gott, sagen können:
Na ja, wenigstens habe ich trotzdem was Sinnvolles gemacht.»
«Das ist zynisch.»
«Nein, pragmatisch. Und aus genau demselben Grund sehensich Exorzisten-Pfarrer gerne als so eine Art christlich geprägter Psychologen.»
«Psychologie ist doch toll», sagte Lol grimmig. «Sieh doch mal, wie sehr sie Moon geholfen hat.»
«Vielleicht hatte sie den falschen Therapeuten.»
«Nächstes Mal besorgen wir ihr einen besseren. – Ich glaube,
du
hättest Moon helfen können. Hätte ich dir doch nur früher von ihr erzählt. Außerdem glaube ich … Ich glaube, es gibt noch eine Menge anderer Leute, denen du helfen könntest.»
«Danke, aber da bin ich anderer Meinung.» Sie ließ Zigarettenschachtel und Feuerzeug in ihre Tasche fallen und stand auf.
Das war nicht gut: Nichts war geklärt. Er spürte, dass sie verändert sein würde, wenn sie zu ihrer Herde zurückkehrte – eine traurige Schäferin im Exil, unausgefüllt, in einer Gemeinschaft, die keine Gemeinschaft mehr war. Vom Dorfleben war, genau wie er es in einem seiner Songs erzählte, nichts mehr übrig als schöne, verblasste Erinnerungen. Sie würde alt und grau werden, und am Ende würde sie Gott hassen.
«Hör mal.» Lols Stimme wurde zu einem drängenden Wispern. «Mein Leben ist zum Heulen. Meine Auftritte sind gescheitert, ich bin ein mittelmäßiger Songschreiber und ein Ex-Irrenhausinsasse, bei dem es keine Frau aushält. Mein einziger Lebenszweck scheint zurzeit darin zu bestehen, ein Album für einen unausstehlichen kleinen Idioten zu produzieren, dessen Vater sich erpressen lässt. Vor drei Tagen hat mir eine Frau, die ich nicht lieben konnte, der ich aber hätte helfen sollen … die Tür vor der Nase zugemacht. Und anschließend hat sie sich die Pulsadern aufgeschnitten. Und jetzt behandelt jemand, an dem mir viel liegt, mich ganz genauso. Was sagt mir das?»
Megaselbstmitleid
, dachte er, als sie sich wieder setzte.
Manchmal funktioniert es.
Merrily sagte, den Blick auf den Tisch gerichtet: «Manchmal denke ich, du bist der einzige Freund, den ich habe.»
«Freund», echote er trübsinnig.
Sie sah ihm in die Augen. «Das ist ein großes Wort, Lol.»
Er nickte, obwohl er wusste, dass es größere gab.
Draußen wurde es schon dunkel. Der Nebel hatte sich den ganzen Tag über nicht aufgelöst.
31
Alter Tiger
Jane stand auf dem Rasen des Pfarrhauses. Ethel beobachtete sie von drinnen durch das Küchenfenster. Noch immer hing alles voller Nebel, doch direkt über ihr war er etwas lichter; also war dort vermutlich der Mond.
Also gut.
Man hatte ihr gesagt, es sei auch o. k., das im Haus zu machen, aber das kam ihr irgendwie nicht richtig vor, wenn es um den Mond ging. Außerdem war das hier immer noch ein
Pfarrhaus
. Auch wenn der Garten an den alten, unheimlichen Obstgarten angrenzte, der, obwohl er jetzt Kircheneigentum war, schon viel länger hier bestand. Wahrscheinlich sogar schon seit vorchristlicher Zeit.
Es war noch nicht sehr spät, aber sehr still. Gewöhnlich hörte man Leute auf dem Marktplatz, oder die Gäste des
Black Swan
, doch an diesem Abend schienen alle zu Hause geblieben zu sein.
Jane fragte sich, ob Rowenna auch gerade im Garten stand. Allerdings war die Gegend, in der Rowenna wohnte, dichter bebaut, sodass man sie sehen würde. Außerdem hatte sie jüngere Brüder, die jede Gelegenheit nutzten, sich über sie lustig zu machen. Alsowar Rowenna vermutlich in ihrem Zimmer und hielt durchs Fenster nach demselben Mond Ausschau.
Jane sah zum Himmel hinauf und räusperte sich etwas nervös. Wahrscheinlich fühlte sich Mom genauso, wenn sie auf der Kanzel stand.
Denk nicht an Mom. Das hier hat nichts mit ihr zu tun.
Sie atmete die kalte Luft tief ein und stellte sich seidige, silbrig schimmernde Mondstrahlen vor – leider waren gerade keine zu sehen. Und dann rezitierte sie den Text, wobei sie darauf achtete, nicht zu laut zu sprechen. Solche kleinen Dörfer hatten Ohren.
Heil Dir, Frau Luna,
deren Licht auf unsere verborgensten Hoffnungen fällt.
Heil Dir, von den Gestaden der Finsternis.
Das mit den
Gestaden der Finsternis
machte den Text aufregender als den Sonnengruß am Morgen. Ganz besonders bei diesem Nebel.
Und er funktionierte, dieser regelmäßige spirituelle Gruß. Er ordnete den ganzen Tag in einen Naturkreislauf ein. Er erweiterte das
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