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Mittwinternacht

Mittwinternacht

Titel: Mittwinternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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Spiritualität fühlen. Das lag daran, dass sie an besonderen Stellen errichtet worden waren, an uralten heiligen Orten. Und dazu kamen hier noch die besonderen Schwingungen der gotischen Architektur.
    Merrily ging mit gesenktem Kopf, die Hände in die Jackentaschen gebohrt, hinter ihrer Tochter her. Sie ließ sich auf keine Debatte ein. Ein Streit lag in der Luft, aber das war weder der richtige Moment noch der richtige Ort dafür. Abgesehen davon hatte sie sich genügend eigene Gedanken zu machen, eigene Entscheidungenzu fällen. Sie überlegte, ob sie den heiligen Thomas um Rat bitten sollte, und stellte erfreut fest, dass sich Jane in Richtung nördliches Querschiff wandte, wo der alte Junge lag. Wenn man es so nennen wollte. Sie gingen am Hauptaltar vorbei, über dem der riesige Corona-Reif hing wie ein gigantisches, altmodisches goldsilbernes Spitzenpapier für Torten. An Samstagen waren die Kathedrale und ihre Umgebung von Touristen bevölkert, die sich die Hauptattraktionen ansahen: die Mappa Mundi, die angeketteten Bücher in der Bibliothek, die Tapisserien von John Piper, den mittelalterlichen Schrein von   …
    «Oh.»
    Im nördlichen Querschiff wurde Merrily von einer hölzernen Trennwand aufgehalten, die mit Ketten und Vorhängeschlössern gesichert war. Sie verdeckte die Stirnseite des Gangs und den unteren Teil des riesigen Buntglasfensters, auf dem sich auf rotblauem Grund Jesus und eine Heerschar Engel drängten.
    Jane sagte: «Tja, Hochwürden Mom, irgendwas stimmt hier wohl nicht ganz.» Sie spähte durch einen Spalt in der Tür der Trennwand. «Sieht nach einer Baustelle aus. Bauen sie die Ecke in ein Besucherklo um, oder was?»
    «Das hatte ich ganz vergessen. Sie demontieren den Schrein.»
    «Und warum?», erkundigte sich Jane neugierig.
    «Restaurierung. Ganz große Sache. Unheimlich teuer. Zwanzigtausend reichen da vermutlich nicht. Man muss sich schließlich um seinen Heiligen kümmern.»
    «Heiligen?», sagte Jane. «Also wirklich. Dieser Typ war nichts weiter als ein ehrgeiziger Politiker im Dauereinsatz.»
    «Ja, das war er auch, aber   …»
    «Thomas Cantilupe, 1218 bis 1282», betete Jane herunter. «Ehemaliger Lordkanzler von England. Stammte aus einer reichen normannischen Freiherrensippe. Besonders anstrengen musste er sich nicht im Leben, oder?»
    Doch, musste er, wollte Merrily sagen. Als er Bischof von Hereford wurde, hat er versucht, das alles hinter sich zu lassen. Trug ein härenes Hemd. Und als der Genussmensch, der er bekanntermaßen war, ließ er einmal eine große Pastete mit seinen bevorzugten Neunaugen aus dem Severn backen, aß einen einzigen saftigen Bissen und verschenkte den Rest.
    «Jedenfalls scheint er den Bogen rausgehabt zu haben, mein Schatz. Seinem Schrein werden ungefähr dreihundert Wunder zugeschrieben.»
    «Ja, aber das liegt an etwas ganz anderem.» Jane schob sich eine dunkelbraune Haarsträhne hinters Ohr. «Es liegt an der Macht dieses
Ortes
. Wenn man hier eine Imbissbude aufgemacht hätte, wären die Leute auch geheilt worden. Es hängt alles mit dem Zusammenfluss der Energieströme zusammen. Es hat überhaupt nichts mit dem Luxusgrab von diesem reichen, privilegierten, korrupten   …»
    Sie unterbrach sich. Ein schlanker junger Mann in einem Sweatshirt mit dem Bild der Kathedrale kam auf sie zu.
    «Sie sind Mrs.   Watkins, oder?»
    «Hallo», sagte Merrily zögernd. Müsste sie ihn irgendwoher kennen? Sie hatte schon vor einiger Zeit festgestellt, dass man in ihrem Job nichts dringender brauchte als ein Elefantengedächtnis.
    «Ähm, Sie kennen mich nicht, Mrs.   Watkins. Ich habe Sie einmal zusammen mit dem Erzdiakon gesehen. Neil Cooper – ich helfe ein bisschen bei dem Projekt hier. Es ist bloß   … Also, ich habe einen Schlüssel, falls Sie es sich mal ansehen wollen.»
    Während Merrily noch überlegte, hatte Jane Neil Cooper schnell von seinem blonden Haar bis zu seiner engen Jeans gemustert.
    «Okay», sagte Jane. «Cool. Das machen wir.»
     
    Unter dem Fenster schlief ein Bischof aus dem vierzehnten Jahrhundert. Seine marmorne Mitra erinnerte an eine Nachtmütze. Das Grab seines heiligen Vorgängers jedoch, Thomas Cantilupes Grab, war abgebaut – die Steinelemente lagen aufgereiht nebeneinander wie bei einer Ausstellung postmoderner Zierornamente für den anspruchsvollen Gartenbesitzer, dachte Merrily.
    Es waren mehr als dreißig Bestandteile, erklärte ihnen Nick, die von den Steinmetzen sorgfältig nummeriert worden waren. Neil

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