Mittwinternacht
war Archäologiestudent und kam an den meisten Wochenenden zum Helfen. Wie er sagte, war es für ihn eine einmalige Gelegenheit, ein berühmtes und sehr interessantes mittelalterliches Grab zu untersuchen.
Jane stand inmitten der Steinelemente und Werktische, sah sich um und spähte unter Staubplanen.
«So, und wo sind die Knochen?»
Eine ältere Dame warf einen Blick durch die Tür und zog sich beim Anblick des geöffneten Grabes eilig zurück, als würde der Staub irgendwelche Krankheiten aus dem finsteren Mittelalter übertragen.
Jane war bereit, das Risiko in Kauf zu nehmen. Sie kauerte sich hin und strich über eine der länglichen Seitenplatten des Schreins, wobei sie die Augen schloss, als würden sich geheimnisvolle Emanationen auf sie übertragen, zum Beispiel das schwache Echo gregorianischer Choräle. Jane mochte das Gefühl, mit anderen Daseinsebenen in Verbindung zu stehen. Das hatte natürlich nichts mit Religion zu tun, versteht sich.
«Tut mir leid», sagte Neil. «Es sind keine da.»
«Keine Knochen?»
Während sie ihre Hände weiter zart über den Stein gleiten ließ, öffnete Jane die Augen wieder und blickte zu Neil auf. Er war ungefähr zwanzig Jahre alt und damit ein älterer Mann. Jane fand ältere Männer cool, und zwar
ausschließlich
ältere Männer. Langsammachte sich Merrily Gedanken darüber, dass ihre Tochter noch keinen nennenswerten Kontakt zu Jungs in ihrem Alter gefunden hatte, seit sie nach Herefordshire gezogen waren.
Neil warf Jane nur einen flüchtigen Blick zu. «Wahrscheinlich, Mrs. Watkins, wurden einige der Knochen während der Reformationszeit aus Sicherheitsgründen weggebracht. Und einige wurden offenbar während der Pest durch die Stadt getragen, weil man sich davon Heilung erhoffte. Man geht davon aus, dass diese Knochen nicht alle zurückgebracht wurden. Die Gebeine sind also ziemlich zerstreut, wenn auch vermutet wird, dass ein Teil des Schädels wieder in Hereford sein soll, drüben bei den Mönchen vom Kloster Belmont.»
Jane stand auf. «Also war das Grab vollkommen leer, als ihr es geöffnet habt, oder was?»
«War nichts als Staub drin», sagte Neil.
Die Seitenplatte war in sechs Felder unterteilt. Aus jedem Feld war ein Ritter in Rüstung herausgemeißelt worden. Ihre Schwerter und Schilde und Helme und sogar die Finger in den Kettenhandschuhen waren klar zu erkennen, doch alle ihre Gesichter fehlten – nur flache ovale Stellen waren auf dem Stein zurückgeblieben. Es sah nicht danach aus, als sei dafür allein der Zahn der Zeit verantwortlich.
«Also», sagte Jane, «ist dieses großartige, historische, heilige Kunstwerk im Grunde nichts weiter als eine hohle Nuss.»
«Es ist ein Schrein», sagte Merrily.
«Das ist allerdings eines der Dauerprobleme der anglikanischen Kirche», sagte Jane mit einem schlauen Lächeln, bevor sie die Pointe folgen ließ, «dass es in ihr nämlich
so vieles
gibt, was nichts weiter ist als eine hohle Nuss.»
Merrily war so umsichtig, darauf nicht zu reagieren. «Wir halten Sie auf», sagte sie zu Neil Cooper. «Es war sehr nett von Ihnen, uns herumzuführen.»
«Kein Problem, Mrs. Watkins. Kommen Sie wieder, wann immer Sie möchten.» Er lächelte Merrily an, ohne Jane zu beachten.
Jane zog ein finsteres Gesicht.
«Ich vermute, Sie werden ziemlich oft hier sein», sagte Neil. «Wahrscheinlich bekommen Sie ja ein Büro im Klostergebäude.»
«Das ist noch nicht raus», erwiderte Merrily ein bisschen zu heftig. «Abgesehen davon wäre ich ohnehin nur anderthalb Tage die Woche hier. Ich habe schließlich auch noch eine Gemeinde zu betreuen.»
Meine Güte
, dachte sie,
weiß denn hier wirklich jeder über diese Sache Bescheid?
Von wegen unauffällig, von wegen Diskretion!
«Schauen Sie jederzeit vorbei», wiederholte Nick. «Ich freue mich immer, Sie zu sehen.»
«Das Blöde an älteren Männern ist», sagte Jane, als sie aus der Kathedrale gingen, «dass diese Schwachköpfe auf
noch
ältere Frauen zu stehen scheinen.»
Als sie in die Broad Street einbogen, regnete es fast nicht mehr, aber die dunklen Wolken drohten mit weiteren Niederschlägen. Merrily fiel auf, dass Jane größer wirkte. Sie war sogar ein bisschen größer als sie selbst. Das war nichts Besonderes, trotzdem beunruhigte es Merrily einen Moment lang. Dieser bedeutende Wachstumsschub hatte ausgerechnet in den paar Tagen stattgefunden, die sie nicht zusammen gewesen waren. Während sich Merrily in Wales mit Seltsamkeiten beschäftigt hatte,
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