Mittwinternacht
war Jane bei dem zuverlässigen Dorfehepaar Gomer und Minnie untergebracht worden und nur ins Pfarrhaus gegangen, um Ethel, die Katze, zu füttern.
Merrily fühlte sich leicht desorientiert. In den zehn Tagen, seit sie das letzte Mal in der Kathedrale gewesen war, hatte sich sehr viel verändert. Zehn Tage, die ihr – vor allem, weil die letzte Woche so merkwürdig gewesen war – viel länger erschienen, fast, als gehörten sie in eine andere Zeit.
Seltsam verunsichert drehte sich Merrily nach dem historischen Gebäude aus braunen und rötlichen Steinen um. Es schien geschrumpft zu sein. Von fast jedem Blickwinkel im Stadtzentrum aus wurde es von den Türmen der All-Saints-Kirche und St. Peter überragt. Die Kathedrale hatte ihren eigenen Turm schon lange verloren und stand fast bescheiden in einem abgeschiedenen Winkel zwischen dem Wye und dem Festungspark, umgeben von stillen Straßen ohne Geschäfte.
«Tee?», fragte Merrily niedergeschlagen.
«Meinetwegen.»
Es war inzwischen später Nachmittag. Über dem Himmel lag ein orangefarbener Dunstschleier. Merrily sah sich nach einem Café oder Imbiss um. Sie fühlte sich mit einem Mal fremd in dieser Stadt und suchte nach einem Ort, an dem sie sich wieder erden konnte.
«Der
Green Dragon
? Dort gibt es bestimmt Tee.»
Jane zuckte mit den Schultern. Sie überquerten die Straße und gingen auf das größte Hotel von Hereford zu. Es stammte aus dem neunzehnten Jahrhundert und war das längste Gebäude in der Broad Street.
«Habt ihr die Geschichte von Thomas Cantilupe in der Schule durchgenommen?»
«Nur kurz. Was die Landespolitik angeht, hat er keine große Rolle gespielt. Anscheinend hat überhaupt nichts, was in Hereford jemals passiert ist, eine Wirkung auf die große weite Welt gehabt.»
Es war zwecklos, mit Jane zu sprechen, wenn sie in dieser Stimmung war. Sie hatte zugestimmt, zum Einkaufen mitzukommen, und das war an einem Samstag ein sehr großes Opfer; also war es jetzt Merrilys Aufgabe, herauszubekommen, was nicht stimmte, und das würde ihr Jane bestimmt nicht leichtmachen. Das Ganze war ein ermüdendes altes Ritual zwischen ihnen beiden.
Sie fanden im
Green Dragon
einen Fenstertisch mit Blick auf die Broad Street. Mit der einsetzenden Dämmerung wurden die Passantenströme dünner. Manchmal gab es auch im November noch einen Tag mit strahlendem Sonnenschein, aber heute war es grau und winterlich gewesen. Merrily überkam ein trübseliges Gefühl von Verlust und Sinnlosigkeit – sehr tief ging es allerdings nicht. Vielleicht wünschte sie sich nur, noch einmal in Janes Alter zu sein.
«Kuchen», sagte sie fröhlich.
«Nur Tee, danke. Schwarz.»
Merrily bestellte zwei Tassen Tee und einen Scone. «Machen wir uns Sorgen um unsere schlanke Linie, Spatz?»
«Nein.»
«Und
wo
rüber machen wir uns Sorgen?»
«Haben
wir
gesagt, dass wir uns Sorgen machen?»
Die gelangweilt halbgeschlossenen Augen, das sarkastische Zucken mit den Mundwinkeln. Ganz genau wie Sean – wenn Merrily zum Beispiel versucht hatte, etwas über einen seiner zwielichtigen Klienten aus ihm herauszukriegen. Da sieht man seine Tochter eine einzige Woche lang nicht, und schon lässt sie das düstere Andenken ihres Vaters auferstehen.
Merrily versuchte es noch einmal. «Ich … ähm … habe dich vermisst, mein Schatz.»
«Wirklich?» Jane stützte den Ellbogen auf den Tisch und legte ihre glatte, blasse Wange in ihre Hand. «Ich hätte gedacht, du hast viel wichtigere Dinge im Kopf, wenn du in deiner Soutane herumspringst und mit der Seelenpolizei deine
Fahre-hinweg-Dämon
- Übungen absolvierst.»
«Aha.»
«Was?»
«Darum geht es also – um die Seelenpolizei? Du hältst mich für einen …»
Ja, was? Einen Anachronismus? Einen Witz? Auch wenn Janeim Grunde spirituell eingestellt war, glaubte sie nicht, dass das auch für die Kirche von England galt. Schlimm genug, wenn die eigene Mutter mit einem Hundekragen herumlief, ganz zu schweigen von dem Weihwassergespritze und der ominösen schwarzen Tasche. Ging es darum?
Vermutlich war das zu einfach gedacht. Bei Jane war niemals irgendetwas einfach.
Ein Mann, der draußen Richtung All Saints lief, sah zum Fenster herein, blieb überrascht stehen und ging dann weiter.
O Gott, nicht der, nicht jetzt.
Merrily wandte sich vom Fenster ab und richtete ihren Blick wieder auf Jane.
«Okay, sieh mal …»
Ja?
Merrily beugte sich vor. Ein Spalt, eine Öffnung?
Ja
…
Jane sagte: «Ich fühle mich nicht wohl mit
Weitere Kostenlose Bücher