Mittwinternacht
auf Barrys Rückruf wartete, ging sie an das Bücherregal in der Eingangshalle, auf dem die Titel zur Lokalgeschichte standen. Sie nahm ein Buch heraus, das sie im Verkaufsshop der Kathedrale gekauft hatte:
St. Thomas Cantilupe, Bischof von Hereford – Essays zu seinen Ehren
. Merrily hatte noch keine Zeit gehabt, hineinzusehen.
In dem Buch gingen verschiedene Historiker auf das Leben des Heiligen und seine Wirkung auf Hereford ein – die offenbar enorm gewesen war. Merrily begann mit einem Beitrag zu den letzten Lebensmonaten, die Cantilupe nach seinem Streit mit dem Erzbischof von Canterbury, John Pecham, im Jahr 1282 noch geblieben waren.
Sie schienen sich eine akademische Auseinandersetzung über die Abgrenzung ihrer Machtbereiche geliefert zu haben. Am Ende war Cantilupe exkommuniziert worden und nach Italien gereist, um persönlich beim Papst vorzusprechen. Auf dem Rückweg brach er, immer noch in Italien, am Morgen des 25. August vor Erschöpfung zusammen und starb. Die Leiche wurde gekocht, wie es Sitte war
(Wirklich? Meine Güte!)
, um das Fleisch von den Knochen zu lösen. Das Fleisch wurde in der Klosterkirche von San Severo beigesetzt, während das Herz und die Knochen von Cantilupes Verwalter John de Clare nach England zurückgebracht wurden. Das Herz wurde im Kanoniker-Kolleg von Ashridge, Buckinghamshire, aufbewahrt, und die Knochen kamen nach Hereford.
Und dort begannen sie, Pilger anzuziehen – es kamen Tausende.Als sich die Erzählungen von Wundern verbreiteten – Lahme standen auf, Blinde wurden sehend –, entwickelte sich sein Grab zum bedeutendsten Schrein im westlichen England. Und die vergleichsweise bescheidene Kathedrale von Hereford wurde überaus reich.
Auch wenn einige der Knochen schon früher aus dem Grab geholt worden zu sein schienen, verschwanden die meisten erst während der Reformation, als Henry VIII. die Zerstörung des Schreins befahl. Ohne es weiter zu erläutern, erwähnte der Beitrag auch, dass die «verfolgten Knochen» auf der Reise von Italien nach England geblutet hatten.
Dann rief Barry Ambrose zurück. Merrily mochte ihn. Er war friedliebend, gemütlich und ein bisschen zu dick. Der Inbegriff eines altmodischen Pfarrers.
«Hallo, Merrily … Haben Sie das von Clive Wells gehört?»
Der arrogante Pfarrer aus reicher Familie, der auf Huw herabgesehen hatte. «Was denn?»
«Er hat hingeschmissen.»
«Was, den Exorzisten-Job?»
«Nein, alles. Anscheinend will er mitsamt seiner Familie nach Kanada auswandern. Hatte ein Erlebnis, über das er mit niemandem reden will – er kann nicht mal mehr eine Kirche betreten. Ich hab gehört, dass er nicht mal mehr an einer Kirche
vorbeigehen
kann, ohne einen Nervenzusammenbruch zu bekommen.»
«Mein Gott.»
«Das stimmt einen nachdenklich, nicht? Was kann ich für Sie tun?»
Es war, sagte Merrily, nur ein Versuch. «Hier ist ein Mädchen hergezogen, aus Wiltshire … Salisbury.»
«Oh, in Salisbury sind sie mir gegenüber ziemlich misstrauisch. Sie können sich ja vorstellen, wie das ist.»
«Ja. Ich wollte auch nur … Falls Sie vielleicht zufällig irgendetwashören. Ich weiß nicht einmal genau, wonach ich eigentlich suche. Das Mädchen heißt Rowenna Napier. Sie sind vor ein paar Monaten dort weggezogen. Jemand hat angedeutet, dass in ihrer Vergangenheit etwas Komisches vorgefallen ist, was ein Pfarrer allerdings nicht unbedingt komisch finden würde. Tut mir leid, mehr weiß ich auch nicht.»
«Immerhin haben wir einen Namen, das ist doch schon ein Anfang. Am besten lasse ich diesen Namen gelegentlich mal auf der Domfreiheit fallen; mal sehen, ob jemand reagiert.»
«Das würden Sie tun?»
«Lassen Sie mir ein oder zwei Tage, dann sind wir bestimmt schon weiter. Und – wie läuft es für Sie, Merrily? Aber nicht die zensierte Fassung, wenn es geht.» Sie hörte an seiner Stimme, dass er die Hand halb über die Sprechmuschel gelegt hatte. «Ich sage Ihnen, ich sterbe manchmal beinahe vor Angst.»
«Danke, dass Sie das gesagt haben, Barry. Stella hat mir den Eindruck vermittelt, als hätten Sie in dieser Hinsicht nicht besonders viel zu tun.»
«Mehr lasse ich sie auch nicht wissen», sagte Barry.
Viv kam mit einer
Hereford Times
im Laden an.
«Über Moon steht Gott sei Dank nicht viel drin. Den Selbstmord ihres Vaters haben sie gar nicht erwähnt. Vielleicht arbeitet dort niemand, der sich noch daran erinnern kann.»
Oder Denny hatte sich geweigert, mit ihnen zu sprechen,
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