Mittwinternacht
«Jederzeit.»
Merrily ging im Laden vorbei, um zu sehen, ob Lol zu Hause war. Eine große Frau nahm sie interessiert in Augenschein.
«Sie müssen Janes Mutter sein.»
«Sie kennen Jane?»
«Nicht persönlich», sagte die Frau mit einem rätselhaften Lächeln, «aber ich habe selbst Töchter, also kenne ich das Problem.»
«
Gibt
es denn ein Problem?» Was zum Teufel hatte Lol dieser Frau erzählt? Merrily hätte am liebsten mit einer Handbewegung all die Gerüchte und Hinterlistigkeiten weggewischt, die sich in den langen nebligen Tagen überall angehäuft zu haben schienen.
Die Frau lächelte in sich hinein. Anscheinend sonnte sie sich in einem überlegenen Wissen.
«Wo ist Lol?», fragte Merrily schroff.
«Oh.» Die Frau wich einen Schritt zurück. «Ich glaube, er ist drüben in der Bibliothek. Da wollte er jedenfalls hin.»
«Vielen Dank.»
Draußen hatte fast übergangslos die Abenddämmerung eingesetzt. Zum ersten Mal in diesem Jahr nahm Merrily die Weihnachtsbeleuchtung wahr. Kleine goldene Leucht-Nikoläuse rasten auf ihren Schlitten über der Broad Street dahin, und das heimelige Licht roter Laternen begrüßte die Brieftaschen aus nah und fern.
In drei Wochen war Weihnachten. Den Menschen ein Wohlgefallen … Kinderkrippenspiele in der Kirche … nachmittägliche Adventsmessen … Mitternachtsgottesdienst.
Merrily blieb vor der Bibliothek stehen. Sie ließ die eiligen Feierabendeinkäufer an sich vorüberziehen und konzentrierte sich auf ihren Magen, in dem der Geist Denzil Joys – der Geist, der
nicht
existierte – eine Art undurchdringlichen Nebel gebildet hatte. Und jetzt war er weg.
Lol kam mit einem schweren braunen Buch unter dem Arm die Treppe der Bibliothek herunter.
«Merrily!» In seinen goldumrandeten Brillengläsern spiegelten sich die leuchtenden Nikoläuse.
Lol
, hätte sie am liebsten gerufen,
mir geht es wieder gut. Er ist weg
.
Und sich in seine Arme geworfen.
Ich kann trotzdem nicht mit dir ins Bett gehen. So was tun Geistliche nicht.
«Wir müssen reden, Merrily.»
Auf einmal wollte jeder mit ihr reden.
«Ich muss dir auch etwas erzählen», sagte sie, immer noch in dieser merkwürdigen euphorischen Stimmung. «Komm, wir gehen in die Kirche.»
Der Pfarrer der All-Saints-Kirche hatte eine größere Gemeinde als die Kathedrale.
Das lag daran, dass sie einen großen Bereich am hinteren Ende der mittelalterlichen Kirche in ein Restaurant verwandelt hatten. Noch dazu in ein gutes. So etwas würde in einem Dorf wie Ledwardine vermutlich nicht funktionieren, doch in Hereford hatte es geklappt. Die Kirche war wieder zu dem geworden, was sie im Mittelalter gewesen war: das Zentrum von allem. Es war gut, in einer Kirche lautes Gelächter zu hören, Einkaufstüten zu sehen und Kinder zu beobachten, die vielleicht noch nie zuvor eine Kirche von innen gesehen hatten und schüchtern, aber fasziniert den Mittelgang hinunter auf das Allerheiligste starrten.
Sie trugen ihr Tablett mit Tee an einen Tisch. Lol hatte immer noch das braune Buch unter dem Arm. «Das ist eine Bibel, oder?», sagte Merrily. «Los, gib’s zu, ich verkrafte das.»
«Knapp …», Lol legte das Buch hin, «… daneben.»
Auf dem Buchrücken stand in schwarzen und goldenen Lettern:
ROSS: KELTISCHES HEIDENTUM IN GROSSBRITANNIEN
«Mist», sagte Merrily, «ich war so nahe dran.»
«Die Krähe», sagte Lol.
«Die Krähe?»
«Du hast mir nichts von der Krähe erzählt, deren Innereien sie über dem Altar dieser kleinen Kirche verteilt haben.»
«Hätte ich das tun sollen?»
Lol schlug das Buch auf. «Hat sich eigentlich niemand gefragt, warum sie ausgerechnet eine Krähe geopfert haben?»
«Lol, wir wollen diese Idioten einfach loswerden. Es geht der Kirche nicht darum, die kruden Ideen solcher Leute nachzuvollziehen.»
«Krähen und Raben», sagte Lol. «Verehrt und gefürchtet von den Kelten der Eisenzeit. Aber hauptsächlich gefürchtet, weil sie die Gabe der Prophetie haben sollten. Und zwar nicht die Am-Wochenende-gewinnst-du-im-Lotto-Art von Prophetie.»
«‹Sprach der Rabe,
Nimmermehr
›.»
«Genau.
Die
Art von Prophetie – sie waren Unglücksboten.»
«Und schwarz waren sie auch noch. Wir haben immer noch alle möglichen Vorurteile gegen alles und jeden, der schwarz ist. Da sieht man mal, wie verdammt primitiv wir immer noch sind.»
«In keltischen Volkssagen, steht hier, galten Krähen und Raben als Vorboten des Unheils oder … als Gestalt, die
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