Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mittwinternacht

Mittwinternacht

Titel: Mittwinternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
Vom Netzwerk:
nickte.
     
    Auf der Stirn der Frau war deutlich eine Beule zu erkennen. Außerdem hatte sie eine V-förmige Blutverkrustung über dem linken Auge, dem blutunterlaufenen.
    Merrily hatte schon mehrere Frauen mit solchen Verletzungen gesehen, wenn auch nicht in jüngster Zeit. Und natürlich unter ganz anderen Umständen. Den meisten war sie in dem Auffangheim in Liverpool begegnet, wo sie als Hilfsgeistliche gearbeitet hatte.
    «Das hier hat es getan.» Die Frau hielt einen grünglasierten Keramikaschenbecher in der Hand. Es war ein altmodischer Kneipenaschenbecher, der ungefähr aussah wie ein Hundenapf. «Sehen Sie? Die Seite ist ganz zersplittert. Das ist natürlich nicht passiert, als er mich getroffen hat. Erst danach, als er auf den Boden gefallen ist.»
    «Ich verstehe.» Die Stimme des Mannes klang ruhig und freundlich und überhaupt nicht erstaunt. Es war nicht Huws Stimme – dafür war sie zu tief und zu vornehm. «Also ist er durch die Luft geflogen   …»
    «Ich hätte die anderen Teile aufheben sollen, oder? Hab ich nicht dran gedacht.»
    «Das ist schon in Ordnung, Mrs. …
piep
… Wir sind ja nicht von der Polizei. Also, wo stand denn der Aschenbecher?»
    «Auf der Anrichte. Er steht immer auf der Anrichte.»
    Man sah die Anrichte hinter der Frau. Vermutlich frühe sechziger Jahre. Teakholz mit großen goldfarbenen Schubladengriffen. An der Wand über der Anrichte war ein halb weggescheuerter Fleck. Als hätte sie angefangen, ihn abzureiben, und sich dann gedacht:
Was hat das für einen Sinn, verdammt?
    «Und Sie haben
gesehen
, wie er hochgeschwebt ist?»
    «Ja, ich   … Er ist   … er ist einfach durch die Luft direkt auf mich zugeflogen. Richtig gerast, verstehen Sie?»
    Diese Frau war wirklich zu bedauern. Anfang dreißig und knapp vorm Durchdrehen. Sie hielt die Augen gesenkt, nur einen Moment lang sah sie voller Verzweiflung auf –
Sie müssen mir glauben!
Merrily sah einen Bluterguss um die Iris ihres verletzten Auges.
    «Konnten Sie nicht ausweichen? Konnten Sie sich nicht ducken?»
    «Nein, ich   …» Die Frau zuckte zurück, als würde das Ding erneut direkt auf sie zurasen. «Also, es war viel zu schnell. Ichkonnte mich nicht bewegen. Ich meine, man rechnet schließlich nicht damit   … Man kann nicht fassen, was da gerade passiert.»
    «War da noch etwas anderes?»
    «Was?»
    «Gab es irgendeine Veränderung in der Atmosphäre? Oder eine Temperaturveränderung? Wurde es wärmer   … oder kälter?»
    «Hier drin ist es immer kalt. Kann mir das Heizen nicht leisten.» Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
    «Entschuldigen Sie», sagte er. «Sagen Sie, wo war denn Ihr Mann, als das passiert ist?»
    «Was?»
    «Ihr Mann, hat
er
vielleicht irgendetwas gesehen?»
    «Neinnein   … Er war nicht da, war nicht zu Hause.» Sie zupfte am Ärmel ihrer violetten Bluse.
    Merrily schrieb
Ehemann
auf ihren Notizblock.
    «Er war nicht im Haus», sagte die Frau.
    «Hat er selbst auch derartige Erfahrungen gemacht? Hier im Haus?»
    «Er hat nichts gesehen. Auf
ihn
ist noch nie was zugeflogen. Aber gehört hat er was, so was wie Lärm oder Rumpeln und solche Sachen.»
    «Solche Sachen?»
    «Da fragen Sie ihn besser selbst.»
    «Haben Sie beide ausführlicher darüber gesprochen?»
    Minimales Kopfschütteln.
    «Warum nicht?»
    «Was weiß ich!» Kurz flammte Erbitterung auf, dann wurde ihr Körper wieder schlaff. «Was wollen Sie überhaupt? Es geht um die Kinder, oder? Ich will nicht, dass den Kindern irgendwas passiert   …»
    Ihre Miene erstarrte. Das verletzte Auge war geschlossen.
    «Also», Huw schob sich die Fernbedienung in die Jackentasche,ging zu seinem Tisch zurück und stellte sich vor seine Kursteilnehmer. «Wir unterbrechen den Film an dieser Stelle erst einmal. Irgendwelche Kommentare?»
    Merrily hatte
Ehemann
doppelt unterstrichen.
     
    Sie sahen sich an. Keiner wollte als Erster etwas sagen. Jemand gähnte – es war Nick Cowan, der frühere Sozialarbeiter aus Coventry.
    Huw sagte: «Nick, kein bisschen beeindruckt?»
    Nick Cowan ließ sich tiefer in seinen Stuhl mit der Segeltuchlehne gleiten. «Das war eine Sozialwohnung, oder, Huw? Ich glaube, das haben Sie uns nicht gesagt.»
    «Ist das denn von Bedeutung?»
    «Es ist ein alter Trick, das ist alles. Fast schon ein Klischee. Sie wollen umziehen.»
    «Also spielt sie Theater, das meinen Sie doch, oder?»
    «Na ja, ich kann natürlich nicht   … Sie haben uns doch nach ersten Eindrücken gefragt, und das ist eben mein

Weitere Kostenlose Bücher