Modesty Blaise 01: Die tödliche Lady
auf den Walzen davon, und alles, was in den nächsten zwei, drei Sekunden geschah, erschien Modesty wie eine Zeitlupenaufnahme.
Sie spürte, wie das Seil ihrem schwachen Griff entglitt, und sah, wie es Mrs. Fothergill den Kopf, wie von einem Hammer getroffen, mit einem Ruck hochriß.
Die Hände wurden von Modestys Hals weggerissen.
Das Gewicht hob sich von ihrem Körper. Das Rad des Flaschenzugs oben rumpelte leise.
Mrs. Fothergill schwebte hoch, schaukelte am Ende des Seils über die Leere empor, die Arme und Beine zuckten wie die Glieder einer Marionette. Der Halbknoten um ihren Hals hielt durch ihr Eigengewicht fest. Modesty sah Mrs. Fothergill in der Verkürzung – die Sohlen ihrer Tennisschuhe und zwischen ihnen den verdrehten Kopf. Die Gestalt schien zu schrumpfen, als sie hochgerissen wurde. Es gab einen malmenden Laut, als ihr Kopf gegen das Rad des Flaschenzugs krachte; dann Stille. Die Frau hing schlaff herab, den Hals in rechtem Winkel zu den Schultern verdreht.
Etwas nagte in einem fernen Winkel von Modestys Geist. Der Eimer – kein Lärm von seinem Sturz? Sich den gequetschten Hals haltend, kroch sie mühsam zum Rand des Abgrunds und blickte hinunter. Der Eimer stand aufrecht unten, bis zur Hälfte in einem großen Sandhaufen vergraben.
Modesty legte die Wange auf einen Unterarm, ließ ihren Körper erschlaffen und sog offenen Mundes in großen Schlucken Luft ein. Später spürte sie, daß Hände sie berührten und sanft aufhoben. Willie Garvin.
Sie setzte sich auf, spürte seinen Arm um ihre Schultern und nickte schwach, um ihn zu beruhigen. Noch konnte sie nicht sprechen. Das Atmen war noch immer eine tödliche Anstrengung. Seine kundigen Hände befühlten ihre Kehle und ihren Nacken. Er legte sie etwas zurück, eine Hand auf ihr Sonnengeflecht, und knetete und hob es sanft. Allmählich kam ihr Atem etwas leichter. Willie rückte hinter sie, kniete sich hoch aufgerichtet hin, legte seine Arme über ihre Schultern vor, die Finger unter ihren Brustkorb eingebogen und begann ihn im Rhythmus ihres Atems zu heben und zu senken.
Der Schmerz und die Anstrengung schwanden. Sie spürte, wie die Kraft in ihre Muskeln zurückkam und die Benommenheit wich.
Nach drei Minuten sagte sie, freilich noch heiser krächzend: «In Ordnung, Willielieb. Hilf mir auf.»
Einen Augenblick fühlte sie sich schwach, und sie war froh, daß seine Hände auf ihren Schultern lagen, um sie zu halten. Sie sah den Angstschweiß auf seinem Gesicht und die Bestürzung in seinen Augen. «Was hast du mit ihr gemacht?» flüsterte er. Sie schaute an seiner Schulter vorbei hinauf zu der schlaffen Gestalt, die grotesk von dem Flaschenzug baumelte, und er drehte sich um, um ihrem Blick zu folgen. Fünf Sekunden lang starrte er schweigend hoch, und als er sie wieder ansah, stand ein ungläubiges Grinsen der Bewunderung in seinem Gesicht.
«Na –» sagte er leise. «Das ist mal was anderes, nicht?»
19
Willie holte die zweite Diamantenkiste allein. Er trug sie diesmal auf der linken Schulter, in der rechten Hand ein Messer gezückt. Als er die schuttbestreute Galerie erreichte, saß Modesty auf einem Balken, den Rücken an die Wand gelehnt. Sie hatte den Kongo aufgehoben und hielt den Colt Python in der Hand. Als Willie näher kam, stand sie auf. «Fühlst du dich etwas besser?», flüsterte er.
«Viel besser.» Es stimmte. Ihr Geist und Körper waren auf schnelles Reaktivieren abgestimmt. «Hast du bei dem ersten Gang in der Küche aufgeräumt?»
«Nein. Entschuldige, Prinzessin. Ich bin gerade den Gang hinuntergekommen, als meine Ohren in böser Vorahnung zu jucken begannen. Also schmiß ich die Kiste hin und kam wie der Teufel dahergerannt.»
«Deine Ohren haben dich nicht betrogen», sagte sie.
«Schön, machen wir weiter, Willie.»
Sie ging ihm voraus durch die Galerie und die Stufen zu dem Gang hinunter, der zur Küche führte. Die erste Diamantenkiste stand aufrecht an der Wand, einige Schritte vor der Küchentür. Willie stellte die zweite leise neben die erste. Durch die offene Tür sahen sie einen Mönch, der Asche aus dem großen Küchenherd räumte. Hinter ihm saß ein Mann mit geschlossenen Augen auf einem gegen die Wand zurückgekippten Stuhl. Den Revolver hielt er locker im Schoß. Willie ging mit dem Messer in der Hand leise hinein. Der Mönch starrte ihn an. Er blickte von Willie zu dem schlafenden Wächter und wieder zurück und die Augen blieben an dem Messer hängen. Er schüttelte den Kopf in einem
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