Modesty Blaise 04: Ein Gorilla für die Lady
ausmacht, wenn wir drinnen warten?»
«Da die Tür offen ist», erwiderte Tarrant ruhig, «werde ich Sie einladen, das zu tun.» Er trat als erster ein. Von irgendwoher über ihnen kam Licht aus dem rückwärtigen Teil des Hauses, und am Ende eines langen Ganges zeigte sich ein heller Streifen unter einer Tür. Collier schloß die Haustür, als Tarrant einen Lichtschalter fand. Die zwei Glühbirnen eines schmiedeeisernen Leuchters erhellten die mit dicken Teppichen ausgelegte Halle.
«Das ist sein Arbeitszimmer.» Tarrant wies auf eine Tür rechts. «Ich glaube, wir gehen lieber durch das Wohnzimmer.» Er schritt weiter, blieb aber am Ende des Ganges unvermittelt stehen.
An dieser Stelle führte zur rechten Seite des Ganges eine Treppe hinauf. Die Beine schlaff über die untersten drei Stufen ausgestreckt, lag am Fuße der Treppe ein kleiner Mann in ziemlich verbeultem grauem Anzug. Das Gesicht war dem Boden zugewandt, und der Kopf lag direkt unter einen Arm gebeugt. Zwischen Schulter und Fußboden ragte eine zerbrochene Brille hervor.
Collier spürte, wie sich sein Magen hob. «O Gott», sagte er. Tarrant bückte sich und hob behutsam einen Arm, um das Gesicht sehen zu können. Dann ließ er den Arm wieder sinken. «Es ist Aaronson», sagte er.
Modesty war niedergekniet und drückte zwei Finger seitlich an den Hals des Mannes. Zehn Sekunden später blickte sie mit einer verzerrten Grimasse zu Tarrant auf.
Collier verspürte plötzlich einen unkontrollierbaren Ärger gegen sie. Vor einer Stunde war noch alles so gut gewesen. Aber sie war einfach versessen auf solche unangenehmen Dinge. Morgen würden sie zu irgendeinem wahnwitzigen Ausflug nach Panama unterwegs sein. Und damit noch nicht genug, mußte sie jetzt die Schlagader eines Mannes abtasten, der die Treppe hinuntergestürzt und dabei ums Leben gekommen war.
«Du hast doch wohl nicht erwartet, daß er mit einem gebrochenen Genick noch am Leben ist?» fragte er wütend.
«Ich wollte mich nur überzeugen.» Ihre Stimme klang sanft und beinahe tröstend, was ihn nur noch mehr aufbrachte.
Nur mit Mühe beherrschte er sich so weit, um zu sagen: «Tut mir leid. Ich bin ein bißchen nervös.»
Tarrant stand ganz still, hatte die Hände in die Taschen geschoben und konnte seinen Schmerz nicht völlig verbergen, während er zu Boden starrte. «Ich weiß, daß er seit langem Herzbeschwerden hatte», sagte er und schaute die Treppe hinauf. «Vielleicht ist er aber auch einfach nur gestürzt. Er war schon immer ein zerstreuter Typ.»
«Tut mir leid.» Mit diesen Worten stand Modesty auf und berührte Tarrants Arm.
In plötzlich erwachendem Schuldbewußtsein dachte Collier daran, daß der Tote und Tarrant alte Freunde gewesen waren. Tarrant, der schon seit Jahren Witwer war und seine beiden Söhne im Krieg verloren hatte, Tarrant, der diese schmutzige, einsame und doch so notwendige Pflicht erfüllte, die man ihm übertragen hatte, besaß vermutlich nicht allzu viele Freunde.
«Sollen wir jemand anrufen?» fragte Collier ruhig.
Tarrant blickte auf. «Vorläufig nicht. Ich werde mich um alles kümmern, wenn Sie fort sind.» Er wandte sich zurück zu Modesty und nahm ihre Hand. «Sie haben Eiliges zu erledigen. Steigen Sie in Ihren Wagen und fahren Sie ruhig los. Ich regle das hier schon alles.»
Sie nickte und sagte dann noch einmal: «Tut mir leid.»
Tarrant hob ihre Hand zu sich empor und küßte kurz ihre Finger. «Vergessen Sie das jetzt. Und geben Sie auf sich acht. Bitte.»
«Das tue ich immer.» Sie nahm Colliers Arm. Als sie zwei Schritte gegangen waren, blieb sie stehen und blickte zu Tarrant zurück. «Übrigens, für alle Fälle … versuchen Sie doch bitte, morgen das Britische Museum anzurufen. Fragen Sie, ob es dort einen Mr. Armitage gibt.»
5
Nur mit einem Laken zugedeckt lag Dinah Pilgrim in dem Nachthemd, das Willie Garvin für sie gekauft hatte, wach im Bett. Das Hemd fühlte sich hübsch an, und Willie hatte gesagt, es sei blaßrosa. Alle Kleidungsstücke, die er gekauft hatte, fühlten sich gut an und paßten erstaunlich genau: sie dachte bei sich, daß er vermutlich eine gewisse Erfahrung darin besaß, Mädchenkleider einzukaufen.
Nach drei Tagen waren ihr das kleine Haus und die Standorte der verschiedenen Möbel bis ins einzelne vertraut. Der Schock und teilweise sogar der Schmerz über Judys Tod waren vergangen. Willie Garvin hatte ihr dabei geholfen – nicht mit trostreichen Worten, sondern einfach durch seine Gegenwart und
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