Modesty Blaise 10: Der Xanadu-Talisman
unangenehm sein sollten, möchte ich dich lieber nicht dabeihaben. Vielleicht sind sie gar nicht unangenehm. Vielleicht hat Modesty Giles getroffen, und sie sind zum Dinner nach Casablanca gefahren und unterhalten sich eben sehr gut.«
»Nein, Willie. Sie hätte dich sofort angerufen, damit du dir keine Sorgen machst. Das weißt du genauso gut wie ich.« Sie wandte sich an ihren Mann. »Etienne, wir können nicht nach Amerika fliegen, bevor wir Genaueres wissen.«
»Ich bin ganz deiner Meinung,
mi niña
.«
»Ihr fliegt nicht vor morgen Abend«, sagte Willie.
»Ich rufe euch sofort an, wenn ich Näheres weiß.«
»Es wird stundenlang dauern, bis man eine Telefonverbindung bekommt«, sagte Aranda zweifelnd.
»Gut, dann gebe ich euch Namen und Telefonnummer eines Mannes in San Sebastian. Er ist Amateurfunker, und wir unterhalten uns oft. In der Maschine, mit der Modesty nach Casablanca geflogen ist, ist ein FT-101-Funkgerät. Damit werde ich mit ihm Verbindung aufnehmen. Bittet ihn in meinem Namen, morgen zu jeder vollen Stunde O-800 zu hören, ja?«
Zehn Minuten später war er fort. Als Aranda von seinem Telefongespräch mit dem Mann in San Sebastian zurückkehrte, legte Consuela die Arme um ihn und presste die Wange an seine Brust. »Er hatte Angst«, flüsterte sie. »Willie Garvin hatte Angst. Das habe ich noch nie erlebt.« Er hielt sie fest und streichelte ihr Haar. »Modesty hat viele Gefahren überlebt,
querida
.«
»Ja, aber sie kamen immer von Menschen.« Sie erschauerte in seinen Armen. »Das hier ist etwas anderes.«
»Ich glaube«, sagte der Franzose langsam, »dass wir wenig Hoffnung haben, hier herauszukommen.«
Sie wischte ihm den Schweiß von der Stirn und erwiderte: »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben eine sehr gute Chance, das verspreche ich Ihnen. Beinahe Gewissheit.«
Seit dem Erdbeben waren sechs Stunden verstrichen.
Manchmal war der Franzose wach und bei klarem Bewusstsein wie eben jetzt. Meistens aber warf er sich in unruhigem Schlaf hin und her, murmelte, stöhnte und schrie wie in einem Albtraum dann und wann auf. Die Wunde hatte schon lange zu bluten aufgehört, und Modesty war es gelungen, ihm einen Notverband anzulegen. Eine halbe Stunde nach dem großen Beben erfolgte ein Nachbeben. Es war schwach, aber immer noch stark genug, das halbe Dach des Raumes einstürzen zu lassen. Auf das schützende Gitter fiel jedoch nur ein großer Brocken Mauerwerk. Unmittelbar darauf verlor Modesty das seltsame Gefühl der Betäubung, und ihr Kopf wurde wieder klar. Sie war überzeugt, dass das Erdbeben vorüber war.
Als sie das Bein des Franzosen versorgt hatte, gelang es ihr, das Gitter zu heben und das Mauerwerk beiseite zu schieben. Dann kroch sie in das noch vorhandene enge Loch. Aus dem Auto fiel durch Betontrümmer und verbogene Stahlträger, die sich in einem prekären Gleichgewicht befanden, immer noch ein Lichtstrahl.
Wo der Araber war, lagen jetzt einige Tonnen Schutt.
Zu ihrem Bedauern war auch die Matratze verschüttet.
Sie bog eine Kupferleitung zu sich, sodass etwas Wasser herauströpfelte, nässte damit ein Stück ihres Bademantels und legte es dem Franzosen auf die Lippen. Dann kroch sie wieder in die Grube zurück und zog das Gitter auf seinen Platz.
Der Franzose und sie hatten einander ihre Namen nicht genannt; es wäre in ihrer Lage zu grotesk gewesen. Hier, in der seltsamen Intimität dieses Grabes aus geborstenen Mauern und verbogenem Stahl, wo beide der Tod ereilen konnte, gab es keine Fragen nach Identität und keine Notwendigkeit. Sie waren füreinander »Sie«, denn es gab niemanden sonst. Er war ein Mann Mitte dreißig, mit dichtem schwarzem Haar, einem harten Gesicht und ruhig beobachtenden Augen. Er war nicht groß, aber muskulös und ohne Fett. Er hätte Marokkaner oder Algerier sein können, aber ihr scharfes Ohr sagte Modesty, dass er aus Südfrankreich kam.
Vielleicht aus Korsika.
Seit der Katastrophe hatte er kein Wort der Klage geäußert oder Panik gezeigt – weder in seinem unruhigen Schlaf noch im Wachen. Als er zum ersten Mal bei klarem Bewusstsein war, hatte er ihr höflich, aber nicht überschwänglich gedankt, dass sie sein Leben gerettet hatte. Er zeigte waches Interesse, als sie die Grenzen der Gruft inspizierte, äußerte jedoch keine ängstlichen Warnungen. Bei der Mitteilung, dass die neuen Schuttmassen den Araber getötet hatten, zuckte er bloß die Schultern.
Während des ersten Bebens befand er sich in der Garage, um den Kühler
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