Mörder im Zug
Besuch erwartete.
Zwei Minuten später öffnete er die Haustür.
»Sehr früh«, sagte er. »Was ist?«
»Riedbiester, von der Kriminalpolizei«, stellte Barbara sich vor.
»Nicht schon wieder!« Der Mann schüttelte verzweifelt den Kopf. Er war nicht sehr groß, vielleicht einen Meter siebzig, hatte schütteres Haar, tiefe Furchen in der Stirn und einen Bauch, wie ihn sich Männer spätestens um die 50 zulegten. Über den gestreiften Pyjama hatte er einen schwarzen Anzug gezogen.
»Sie meinen …?«, begann Uplegger.
»Wieder die Fenster kaputtgemacht in Gasthaus? Ist dann viertes Mal.«
»Leider nicht.«
»Leider? Was …?« Der Mann blickte zum Carport, schwankte plötzlich und hielt sich mit der rechten Hand am Türrahmen fest. »Andrea?«
»Welche Andrea?«, flüsterte Barbara Uplegger zu. Der hob die Schultern. Laut sagte sie: »Dürfen wir eintreten?«
Der Mann nickte. Er griff mit der Linken hinter sich und betätigte offenbar einen Schalter, denn die Gartenpforte sprang auf.
Barbara ging voran. Auf den Betonplatten zur Haustür lag der Schnee wohl schon zwei Zentimeter hoch. Klugerweise hatte sie Stiefel angezogen, sodass ihr auch zwanzig Zentimeter nichts ausgemacht hätten.
»Guten Morgen, Herr Medanauskas«, sagte sie.
»Guten Morgen, Frau …?«
»Riedbiester«, wiederholte sie. »Und mein Kollege, Herr Uplegger.«
Medanauskas trat zur Seite. »Was ist mit Andrea?«
»Verzeihen Sie, aber wer ist Andrea?«
»Mein Sohn.«
»Ihr Sohn heißt Andrea?« Barbara schaute mit gerunzelter Stirn zu Uplegger. »Ist das denn kein Mädchenname?«
»Nein, nicht in Italien«, erklärte Medanauskas. »Eigentlich heißt er Andriejus … Unsere Kinder haben alle einen italienischen … wie sagt man das in Deutsch?«
»Spitznamen?«
»Ja, ich glaube.«
»Riccardo nicht«, stellte Uplegger fest. »Der heißt wirklich so.«
»Woher wissen Sie … über meine Familie?«
»Herr Medanauskas, bitte, können wir uns irgendwo setzen?«
»Natürlich.« Er nickte. »Entschuldigung.«
Sie durchquerten eine nicht sehr große, mit braunroten Terrakottafliesen ausgelegte Diele, von der eine schmale Treppe ins Obergeschoss führte. Auf dieser Treppe erschien nun eine Frau, die verschlafen wirkte. Sie war noch kleiner als Perviltas und sehr schlank, und sie hatte sich ein wenig zurechtgemacht, indem sie ein einfach geschnittenes, eierschalenfarbenes Kleid angelegt hatte und darüber eine etwas dunklere Strickjacke aus Schurwolle. Ihr schwarzes, leicht gelocktes Haar hatte sie nicht frisiert, aber wenigstens mit den Händen in Form gebracht. Langsam kam sie die Stufen herunter und wechselte auf Lettisch ein paar Worte mit ihrem Mann. Als sie den Fliesenboden erreicht hatte, sah Barbara, dass sie blass geworden war.
Das Wohnzimmer hatte enorme Ausmaße. Auch hier war der Boden mit Fliesen ausgelegt. Mitten im Raum standen auf einem persisch oder türkisch anmutenden Teppich eine wuchtige Couch und drei riesige Sessel, in denen man versinken konnte. Auch der Glastisch, der den Mittelpunkt der Sitzgruppe bildete, war gigantisch – und bis auf eine Kristallschale mit Äpfeln und einen Stapel auf Kante gelegter Zeitschriften vollkommen leer.
Der gesamte Raum machte nicht nur einen überaus ordentlichen, sondern auch einen sterilen Eindruck, und alles war etwas zu groß: die Schrankwand, der Fernseher, die Glasvitrine für das Sonntagsporzellan, der Esstisch vor dem Übergang zum Wintergarten, der mit seinen Rattanmöbeln nicht nur Gäste, sondern auch Vorbeigehende zu beeindrucken vermochte. Die Familie Medanauskas war vielleicht nicht reich, aber auf jeden Fall sehr wohlhabend.
Barbara und Uplegger setzten sich jeder in einen Sessel, Medanauskas nahm auf dem Sofa Platz. Die Frau blieb in der Nähe des Esstisches stehen, und als Barbara sie mit einer Handbewegung aufforderte, sich zu ihrem Mann zu setzen, schüttelte sie den Kopf.
»Sagen Sie, Herr Medanauskas, wieso haben Sie uns gefragt, ob wir wegen Andriejus gekommen sind?«, begann Barbara. »Machen Sie sich Sorgen um ihn?«
»Als wir gestern im Bett sind … ins Bett sind, da war er noch nicht hier.«
»Wann war das?«
»Ja, so elf?«
»Haben Sie sich da schon Sorgen gemacht?«
Medanauskas schüttelte den Kopf. Seine Frau stand bewegungslos beim Esstisch.
»Wir haben gedacht, er ist vielleicht bei Freund. Treffen sich manchmal in Stadt. Aber … eben habe ich gesehen, dass sein Auto nicht da.«
»Ja, fährt er denn mit dem Auto zur Arbeit?«, fragte
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