Mörder im Zug
Uplegger gar nicht so anders als sein Sohn. Er tat zwar immer, als würde ihm Marvins stundenlanges Herumhängen im Netz nicht gefallen, aber wenn er auf den Geschmack gekommen war, bekam man ihn nur schlecht vom Computer weg. »Ich schau nur noch kurz in unserem System nach.«
»Tun Sie das. Ich hab ja meinen Kühlschrank.«
»Unseren Kühlschrank«, berichtigte Uplegger. Barbara schwieg. Sie holte sich noch ein Bier, kam aber nicht dazu, den Verschluss zu lösen. Was er in einem der Datenspeicher der Ermittlungsbehörden entdeckt hatte, ließ sie innehalten: »Zwei Anzeigen. Wegen Sachbeschädigung. Halt, sogar drei! Im letzten Sommer wurden zwei Mal die Scheiben des Al Faro eingeschlagen. Genauer gesagt, mit Steinen eingeworfen. Immer nachts, logischerweise. Ja, und einmal wurde sogar geschossen.«
»Geschossen?« Barbara stellte die Flasche zurück. »Auf das Lokal?«
»Nein, auf das Leuchtschild. Mit Flachkopf-Diabolos. Den Fenstern hätte man damit zwar keinen Schaden zufügen können, jedenfalls keinen ernsthaften. Das Schild aber ging zu Bruch.«
»Also dann!« Barbara schnappte sich ihren Mantel. »Let’s go Wild East.«
Ihnen stand eine schwere Aufgabe bevor. Ein solcher Auftritt war stets eine Qual. Die Reaktionen der Angehörigen waren nie abzuschätzen und reichten von lautem Schreien zu vollständigem Verstummen, ja zur Erstarrung. Einmal hatte Uplegger sogar einen Notarzt rufen müssen.
Kaum hatten sie den Gang betreten, da steckte Gunnar Wendel den Kopf aus seiner Tür und winkte sie zu sich.
»Wollt ihr die Angehörigen verständigen?«, fragte er. Barbara nickte. »Dann kommt noch einen Augenblick zu mir. Manfred will euch etwas zeigen.«
Barbara und Uplegger betraten das Büro ihres Chefs. Es war erheblich größer als ihr eigenes, und nur ein unkundiger oder ein besonders gutwilliger Mensch hätte die Einrichtung als Retro-Look bezeichnet. Anbauwand, Panzerschrank, der große Besprechungstisch und die Stühle stammten aus DDR-Zeiten, und wer genau hinsah, konnte erkennen, dass die Inventarnummern der Deutschen Volkspolizei nur überklebt worden waren. PD Rostock stand auf den neuen Schildern, aber auch sie waren nicht mehr aktuell und würden wohl demnächst durch PP West ersetzt werden.
Manfred Pentzien, nun im Sakko, stand hinter dem mit Plastikfolie abgedeckten Besprechungstisch, auf dem er den Rucksack des Opfers, den Hansa – Schal, den Regenknirps und die beiden Ordner ausgebreitet hatte. Außer diesen schon bekannten Gegenständen hatte sich in Andriejus’ Rucksack eine durchsichtige Plastiktüte mit einem Apfelrest befunden, überdies ein kleiner Terminkalender, dessen Deckel das Foto einer weißen und blauäugigen Katze enthielt, eine Tablettenpackung und ein Medizinflakon. Barbara beugte sich vor und las die Aufschrift en.
»Lexotanil, MCP-AL-Tropfen.« Sie hob den Kopf. »Wie ich dich kenne, Manfred, weißt du schon, was das ist?«
»Die Spurensicherung ist die Feuerwehr der Kriminalpolizei«, sagte Pentzien mit einem breiten Lächeln. »Der Wirkstoff des Lexotanil heißt Bromazepam und gehört zur Gruppe der Benzodiazepine.«
»Ein Beruhigungsmittel?«
»Ja, auch. Und ein Angstlöser.« Pentzien klaubte einen winzigen Zettel aus seiner Jackentasche. » Lexotanil wird angewendet zur symptomatischen Behandlung von akuten und chronischen Spannungs-, Erregungs- und Angstzuständen. Ist rezeptpflichtig und, auf Deutsch gesagt, ein ziemlicher Hammer.«
»Medanauskas«, sagte Uplegger, und der Name kam ihm mittlerweile ohne Schwierigkeiten über die Lippen, »stand also unter Strom, war nervös und erregt – oder hatte Angst? Oder alles zusammen?«
»Vielleicht war er auch abhängig. Bei Benzodiazepinen geht das schnell.«
»Und das andere?« Barbara deutete auf den Flakon.
»Hier heißt der Wirkstoff Metoclopramid, und das Anwendungsgebiet sind die sogenannten gastrointestinalen Motilitätsstörungen.«
»Wenn man Worte in Peitschen verwandeln könnte, würden alle Mediziner mit blutigem Rücken herumlaufen«, sagte Barbara. »Gastro…?«
»Gastrointestinale Motilitätsstörungen. Ähnliche Begriffe kennst du doch von den Leichentranchierern. Es geht, kurz gesagt, um die unwillkürlichen Bewegungen des Verdauungstraktes, die eben gestört sind. Symptome sind Schluckbeschwerden, Sodbrennen, Übelkeit, Brechreiz, Darmkrämpfe, Verstopfung oder das Gegenteil.«
»Und dieses MCP«, wollte Uplegger wissen, »ist das rezeptfrei?«
»Nein.«
»Dann sind unserem Opfer
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