Mörder im Zug
wohl die Spannungs-, Erregungs- und Angstzustände auf den Magen geschlagen«, überlegte Barbara.
»Oder das Lexotanil«, sagte Pentzien. »Zu dessen Nebenwirkungen gehören nämlich Übelkeit und Durchfall. Aber du könntest recht haben. In dem einen Ordner befinden sich ein paar Aufträge und Rechnungen der Inselseedruckerei Güstrow . Meine Vermutung, bei den Flyern könnte es sich um Andrucke handeln, scheint richtig zu sein. Interessanter ist der dickere Ordner. Andriejus hat einen Kampf gegen seinen Arbeitgeber geführt, der mich ein wenig an Michael Kohlhaas erinnert.«
»Ach?« Barbara streckte ihre Hand aus, aber Pentzien schüttelte den Kopf; die Papiere waren also noch nicht auf Fingerspuren untersucht. »War er ein notorischer Querulant?«
»Ich konnte die Unterlagen nur durchblättern. In der Kaviarfabrik liegt offenbar Einiges im Argen. Seit etwa einem Jahr erhalten die Mitarbeiter nur sporadisch ihren Lohn. Andriejus wollte einen Betriebsrat gründen, der Chef, ein gewisser Simon Rauch, hat das hintertrieben. Daraufhin hat sich der Geschädigte an die Gewerkschaft gewandt, in diesem Fall an Nahrung-Genuss-Gaststätten. Tja, und der ganze Schriftkram, der steckt in dem Ordner.«
»So etwas kann einen schon aufregen«, meinte Uplegger. »Oder Angst machen. Womöglich wurde er eingeschüchtert, unter Druck gesetzt.«
»Das müsst ihr herausfinden.« Pentzien beförderte eine Packung mit Gummihandschuhen aus dem Jackett und riss sie auf. »Was die Tatwaffe betrifft: bisher Fehlanzeige. Aber im mittleren Wagen lagen im Oberstock fünf Zigarettenkippen auf dem Boden. Selbstgedrehte.«
»Das ist gut!« Barbara stieß Uplegger sanft in die Seite. »Mit den Kippen haben wir DNA-fähiges Material!«
Obwohl die Stadtautobahn nach Warnemünde so gut wie leer war, hielt sich Uplegger penibel an die Höchstgeschwindigkeit. Nicht immer war er ein so disziplinierter Fahrer gewesen, aber nach dem Tod seiner Frau hatte er seine Gewohnheiten geändert.
Neben der Erinnerung an sie gab es noch einen weiteren Grund für seine Fahrweise. Er wusste, dass Barbara sich jedes Mal ärgerte, wenn er nach ihrer Ansicht dahinschlich, obwohl es gar nicht nötig war. Sie hatte es zwar aufgegeben, ihn darauf anzusprechen, aber er spürte, wie es in ihr arbeitete. Das war seine kleine Strafe dafür, dass sie manchmal mit Alkohol im Blut Auto fuhr.
Linker Hand tauchten die Fünfgeschosser von Evershagen auf, überragt von einigen Hochhäusern, rechts befand sich ein namenloses Gehölz, das sich bis zu den Gleisen der S-Bahn erstreckte. Barbara starrte scheinbar konzentriert auf die Fahrbahn und schwieg. Uplegger wusste, was in ihr vorging: Vor etlichen Jahren war auf der Fußgängerbrücke zwischen Evershagen und Schmarl ein 15-jähriges Mädchen so brutal ermordet worden, dass selbst die ansonsten wenig zimperliche Presse nie über Details berichtet hatte. Barbara war nicht von Anfang an in die Ermittlungen involviert gewesen, die sich über ein Jahrzehnt hingezogen hatten, und sie litt noch immer unter dem Pfusch, der dafür gesorgt hatte, dass der Mord lange unaufgeklärt blieb. Die Spurensicherung hatte nach ihren Worten am Tatort nicht mit Pinsel und Pinzette gearbeitet, sondern mit der Kettensäge. Noch heute ließ ihr die Frage keine Ruhe, warum einer der beiden Mörder dem Opfer eine Gabel in den Hals gerammt hatte. War das die letzte Demütigung der Sterbenden gewesen?
Nachdem die Ermittlungen damals in der Sackgasse gelandet waren, hatte Rostock endlich eine ständige Mordkommission bekommen. Barbara war seit neun Jahren dabei, Uplegger seit sieben. Das verflixte siebente Jahr, dachte er und warf einen raschen Blick auf Barbaras verkrampft in ihrem Schoß liegende Hände.
An der nächsten Abzweigung verließ er die Stadtautobahn Richtung Lütten Klein. Barbara atmete tief ein und aus.
»Wie fahren Sie denn?«, wollte sie wissen.
»Na, über Lichtenhagen. Von dort gibt es einen Schleichweg nach Warnemünde, und der Stolteraer Weg zweigt ab.«
»Was Sie alles wissen!«
»Wenn ich mit Marvin zum Strand radle, nehmen wir immer diesen Weg.« Uplegger bog beim Warnow Park , einem dieser Einkaufscenter, die nach der Wende überall aus dem Boden gestampft worden waren, nach rechts in die St. Petersburger Straße. »Wir baden lieber abseits von den Touristen. Sie wissen doch, wir Mecklenburger neigen zum Fremdeln.« Er lächelte seine Kollegin an.
»Ja, ja, wir brauchen 50 Jahre, um einen Menschen ins Herz zu
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