Mörderische Ärzte: der hippokratische Verrat
Tragödie an. Der schuldbeladene Täter büßt seine Blutschuld am Ort seiner Verbrechen, wobei die rächenden Erinnyen, die ihn töten, die gleichen sind, die ihm bei seinen Morden zur Seite standen. Aber alles sträubt sich, diesem Serienmörder das Format eines klassischen Untäters zuzubilligen. Er war nichts anderes als ein Psychopath, dem sein Arztberuf und die gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglichten, jahrelang auf unvorstellbar grausame Weise seinen perversen Tötungstrieb auszuleben. Viele wussten, dass er mordete. Manche ermunterten ihn dazu, die meisten schwiegen.
Sigmund Raschers Entwicklung zum Massenmörder begann, wie meist in solchen Fällen, allmählich, unmerklich. Noch schien es völlig normal, dass sich der junge Doktor der Medizin, der in Freiburg, Basel und München studiert hatte und danach als unbezahlter Assistenzarzt in einer Klinik arbeitete, unzufrieden fühlte. Hilfsdienste am Operationstisch für die Professoren und Oberärzte, das entsprach seinen hochfliegenden Plänen nicht. Er träumte von einer Laufbahn als Wissenschaftler, der mit aufsehenerregenden Entdeckungen die Welt aufhorchen ließ. Aber die arroganten KlinikHierarchen, so klagte er immer wieder, waren weder bereit, seine politische Verlässlichkeit als SA-Mann noch seine außerordentlichen Fähigkeiten als Chirurg zu würdigen. Sie nahmen auch seine ersten Forschungsversuche zur Krebsdiagnose nicht zur Kenntnis.
Aber es gab wenigstens jemanden, dem er sein Herz über all diesen Frust ausschütten konnte: seine Geliebte Nini. Die frühere Opernsängerin Karoline Diehl war zwar 16 Jahre älter als der Doktor, doch der Altersunterschied zu dem 30jährigen Assistenzarzt spielte bei beiden anscheinend keine Rolle. Wie weit Liebe im Spiel war, bleibe dahingestellt. Rascher soll der skrupellosen und machtgierigen Frau sexuell hörig gewesen sein. Sicher aber ist, jeder brauchte den andern. Nini spürte den drängenden Ehrgeiz des Mannes, hatte seine gestaute Energie erkannt, mit der er sein Ziel einer akademischen Laufbahn zu verwirklichen suchte. Einst würde sie die Gattin eines angesehenen Gelehrten sein - ein zeitgemäßes Ideal für eine alternde, vom Künstlerruhm unerfüllte Sängerin.
Der von Selbstzweifeln geplagte Arzt dagegen mag in der älteren Frau unbewusst einen Mutterersatz gesucht haben. Nach der Scheidung seiner Eltern hatte er sich enttäuscht von seiner Mutter zurückgezogen. Aber Nini war für Rascher weit mehr als eine Geliebte und Ersatzmutter. Nini konnte die Himmelsleiter in die Höhen der Karriere werden. Sie war eine alte Freundin von Heinrich Himmler, noch aus den Münchener Anfangszeiten der Hitlerbewegung. Himmler war nun einer der mächtigsten Männer Nazideutschlands geworden, Reichsminister, Chef der SS und Herr über die Konzentrationslager. Aber die freundliche Beziehung zu Nini hatte er immer aufrechterhalten. Und als ihm Nini 1939 die Geburt des ersten Sohnes meldete, hatte Himmler Nini mit Glückwünschen, Geld und Liebesgaben bedacht.
Dr. Rascher hatte lange genug auf eine günstige Gelegenheit für seine Karriere gewartet. Nini kannte seine Ambitionen und war entschlossen, sie tatkräftig zu fördern. Nun, im Frühjahr 1939, als ihr Himmler mit seinen Glückwünschen zur Geburt des Sohnes erneut seine Gunst bewies, sah Rascher die Stunde gekommen, die Freundschaft zwischen Himmler and Nini für seine allerdings noch völlig vagen und konfusen Forschungsprojekte zu nutzen.
Nini war glücklich, etwas für die Karriere ihres Geliebten tun zu können. Sie arrangierte ein Gespräch zwischen ihren beiden Freunden.
Vom ersten Augenblick an müssen Funken der Sympathie zwischen dem allmächtigen SS-Führer und dem namenlosen Assistenzarzt übergesprungen sein. Intuitiv erkannte der eine im andern ein brauchbares Werkzeug für die eigenen Interessen.
An diesem Apriltag 1939 schlossen beide ein Bündnis miteinander, das anfangs humanen Zielen zu dienen schien, aber bereits den Keim krimineller Verwirklichung in sich barg.
In diesem Gespräch erzählte Rascher von seinen ersten Forschungen zur Krebsdiagnose, die die Fachwelt nach seiner Meinung nicht genügend gewürdigt hatte.
Himmler hörte aufmerksam zu. In Raschers Worten spürte er die hektische Besessenheit eines bisher unbeachteten Forschers. Möglicherweise faszinierte es Himmler auch, dass Raschers Experimente Blutanalysen erforderten. Und so bildete sich im Wechselgespräch beider ein Auftrag heraus, der wie eine Umsetzung des
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