Mörderische Ärzte: der hippokratische Verrat
unschädliche BCG-Impfemulsion hineingelangt. Selbst Prof. Uhlenhuth, ein Gegner der Calmette-Impfung, kam also nicht umhin zu erklären:
»Nach dem Gang der Beweisaufnahme erscheint mir ein Hineingelangen fremder Tuberkelbazillen in die Lübecker Kultur wahrscheinlicher zu sein als ein Rückschlag in die virulente Form. Alles in allem habe ich die Überzeugung, dass in der Verwechslung beziehungsweise Verunreinigung wohl in erster Linie der Grund des Unglücks zu suchen ist.«
Professor Kolle wandte sich gegen diese immer noch sehr vorsichtige Äußerung von Uhlenhuth, der weiterhin einen Virulenzrückschlag für möglich, wenn auch für unwahrscheinlich hielt. Vorsicht im wissenschaftlichen Urteil sei zwar richtig, könne aber auch jede wissenschaftliche Erkenntnis verhindern. Die Identität des »Kieler Stammes« mit dem aus den erkrankten Kindern gewonnenen Stamm sei erwiesen. »Wäre die Kultur hier in Lübeck unter Verschluss gehalten und mit den erforderlichen Vorsichtsmaßregeln fortgezüchtet worden, so wäre mit einer solchen Hypothese zu rechnen. Die Hypothese würde eine Theorie, wenn das gleiche Unglück sich zu gleicher Zeit auch an andern Orten ereignet hätte. So aber sehe ich in diesem Unglück, das so tragisch verlief für die armen Opfer und die, die das Beste mit der Einführung des Calmette-Verfahrens wollten, aber mit unzureichenden Mitteln einleiteten, keine Erschütterung der begründeten Schutzmaßnahmen gegen andere Krankheiten, gegen Pocken, Cholera, Typhus, Diphtherie.«
Nach dieser Kritik an der skeptischen Haltung Professor Uhlenhuths gab dann Professor Kolle sein endgültiges Urteil ab: »Nach meiner festen wissenschaftlichen Überzeugung und auf Grund der Erfahrungen, die ich als Bakteriologe besitze, ist der Beweis erbracht, dass der »Kieler Stamm« tatsächlich in die BCG-Kulturen gelangt ist und mit ihnen verfüttert wurde. Es sind Kunstfehler vorgekommen.«
Professor Lange kam zu einer gleichen entschiedenen Schlussfolgerung: »Die Unglücksfälle bei der Impfung in Lübeck können nach meiner Überzeugung nur durch ein Versehen bei der Impfstoffherstellung erklärt werden.«
Nach Langes Meinung gab es für ein solches Versehen zwei Möglichkeiten: Entweder wurde ein Kulturröhrchen bzw. kölbchen doppelt beimpft, erst mit dem Stamm BCG und danach mit dem »Kieler Stamm« - oder eine Reinkultur des BCG wurde mit einer Reinkultur des »Kieler Stammes« verwechselt. Lange hielt es aufgrund der Beweisaufnahme für wahrscheinlicher, dass eine Eierkultur des »Kieler Stammes« irrtümlich für eine BCG-Kultur gehalten wurde, so dass aus späteren Abimpfungen des »Kieler Stammes« der Impfstoff für die Kinder hergestellt wurde.
Am 19. Januar 1931 hielt Oberstaatsanwalt Dr. Lienau sein Plädoyer und begründete die Strafanträge.
Die Staatsanwaltschaft hielt es für bewiesen, dass Dr. Altstaedt als Leiter des Gesundheitsamtes durch fahrlässiges Verhalten mitschuldig am Tode von 68 Kindern und an der schweren Erkrankung von mehr als 150 Kindern geworden sei. Hauptsächlich seien Altstaedt ungenügende Vorbereitung der Impfaktion, fehlende Kontrolle und Unterlassungen nach Bekannt werden der ersten Todesfälle vorzuwerfen.
Wesentlich massiver klagte die Staatsanwaltschaft Professor Deycke an. Er habe sich vor Beginn der Impfstoffherstellung weder mit Experten beraten noch für die notwendigen technisch-wissenschaftlichen Einrichtungen gesorgt. Er habe seine Kontrollpflicht verletzt und seine Mitarbeiter nicht genügend angeleitet. Er sei verantwortlich für die verhängnisvolle Verwechslung der Kulturen. Auch habe er sich, nachdem er von den ersten Todesfällen erfahren habe, höchst leichtfertig verhalten, durch Vernichtung des virulenten Impfstoffs die rasche Aufklärung verhindert und damit die Ausbreitung der Katastrophe begünstigt.
Der Oberstaatsanwalt beantragte für Dr. Altstaedt 3 Jahre Gefängnis wegen fahrlässiger Körperverletzung, für Professor Deycke ebenfalls 3 Jahre wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung, für Professor Klotz, den Direktor der Kinderklinik, ein Jahr Gefängnis und Freispruch für die Krankenschwester Anna Schütze mangels Beweises.
Es folgten die Plädoyers der Nebenkläger, die die Interessen der Eltern der toten Kinder vertraten. Dr. Erich Krey ging in seinem Plädoyer bis an die Grenze des damals Möglichen, als er sagte: »Die medizinische Wissenschaft ist zur Mörderin geworden. Aber wir haben hier ja nicht nur das Ansehen
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