Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
Vom Netzwerk:
dem einst der warme Brotgeruch der deutschen Bäckereien beigemischt war und heute die Abgase der Autos. Die Bäckereien hier waren damals meistens deutsch (einer der Bäcker erfand »Russischbrot«, das den Russen bis heute unbekannt geblieben ist).
    »Die Insulaner« sind eine Familie, die der Autor mit allen deutschen Tugenden, mit deutscher Gemütlichkeit, mit deutscher Tüchtigkeit, mit deutscher Empfindsamkeit versehen hatte, dem wohlwollenden Ton wurde nur ein bisschen Ironie beigemischt. Die bedingungslose Liebe des Autors gilt dem jüngsten Spross dieser Familie, dem Mädchen mit zuckendem Nervositätswürmchen oberhalb der Oberlippe, Manja Nork, die den anderen tugendhaften Bewohnerinnen deutscher Abstammung der Wassiljewskij-Insel gar nicht ähnlich war. Auch nicht tugendhaft: Manja Nork wurde das traurige Los zuteil, von einem modischen Künstler verführt und verlassen zu werden. Ihr fürsorglicher Schwager »rettet« sie: Er verheiratet sie nach Deutschland mit einem hässlichen gutherzigen Eigenbrötler, dessen Nachbarschaft auf die Idee kommt, er hätte seine Frau gekauft: »›Wo kann man sich eine Frau kaufen? Ich bitte Sie, wo in unserer Zeit in Europa kann man eine Frau auf dem Markt kaufen?‹ So sprachen die Skeptiker, aber da es sogar in Deutschland weniger Skeptiker als Naivlinge gibt, waren die Naivlinge lauter und man blieb dabei, ›doch, er hat sie gekauft!‹« Als in diesem deutschen Städtchen der von Schicksalsschlägen gebrochene Verführer erscheint, beginnt ein stilistischer Zweikampf zwischen Lermontow und E.T.A. Hoffmann, letzterer (der Hoffmann’sche Eigenbrötler) siegt gegen den Lermontow’schen romantischen Frevler, lässt Manja in die weite Welt ziehen und rät ihr mit freundschaftlichem Wohlwollen, sich eine andere Verankerung zu suchen als Liebe, Familie und Gemütlichkeit. Sie wird Schriftstellerin.
    Fjodors Vorfahren waren im Unterschied zu Leskows »Insulanern« weder Handwerker noch Kaufleute, sie waren Professoren, Offiziere, Mediziner. Sie waren eigentlich seit langer Zeit Russen: nach ihrer Sprache, nach ihrer Kultur und nach ihrem aufrichtigen russischen Patriotismus, was die Verbannung (die als Evakuierung getarnt wurde) in die kasachische Steppe nicht verhindern konnte. Dieses Heft mit der Überschrift »Versuch über die kasachische Steppe« beeindruckte Andreas auf eine seltsame Weise und gab seinem Buch eine andere Richtung. Manche Stellen kannte er fast auswendig:
    Um von einer Wohnbaracke zu einer anderen zu kommen, durfte man das Seil nicht aus der Hand lassen, das an allen Bauten entlanggezogen und an speziellen Pfeilern befestigt war. Sonst wäre man vom eisigen Wind zu Boden geworfen und vom Sand zugeweht worden. Den Körper entdeckten in solchen Fällen die anderen irgendwann später, in der Pause zwischen diesem und dem nächsten Sandsturm. Oder zwischen dem nächsten und übernächsten. Und es war nichts zu sehen außer dem Sand-Wind.
    Besonders bemerkenswert schienen Andreas die Beobachtungen über die deutschen Kriegsgefangenen:
    Als sie uns in eine andere Siedlung versetzten, mussten wir zuerst in eine Baracke, wo vor uns deutsche Kriegsgefangene gewohnt hatten. Dem gleichen Elend wie überall hatten sie ein wenig Häuslichkeit und Gemütlichkeit abgewinnen können: Sie hatten aus Fetzen irgendwelcher alten Kleidungsstücke Vorhänge für die Fenster genäht (Gott weiß, wo sie Nähzeug gefunden hatten). Um die Glühbirnen wurden Schirme aus Papier befestigt. Sogar kleine Bodenläufer aus Gras lagen vor den Betten. Wo sich alle nur Gedanken über das Überleben machten, dachten sie an Gemütlichkeit. Ich schreibe »sie«. Ich gehöre nicht dazu. Ich fand diese Gemütlichkeit rührend, wie man fremde Sitten rührend finden kann. Mich rührte, dass sie sich Lampenschirme gefaltet hatten, nachdem sie mein Land abgebrannt und sich selbst ins Elend gestürzt hatten. Ich glaube, dass ein Mensch, wie ich es bin, diese Ordentlichkeit verachten würde, falls sie nicht von den Fremden, sondern von den Eigenen ausgeübt würde. Ich glaube sogar, sie haben in der Baracke die Schuhe ausgezogen und die Fetzen, die ihnen als Socken dienten, im brackigen Wasser gewaschen. Ich habe viele Jahre gebraucht, bis Maria Karlowna sich abgewöhnt hatte, unsere Gäste aufzufordern, die Schuhe auszuziehen. Das war eine ihrer kleinbürgerlichen Gewohnheiten, die meiner Mutter immer Anlass gaben, mich triumphierend anzuschauen, in dem Sinne, dass ich diese Tochter eines

Weitere Kostenlose Bücher