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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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die Schauspielerinnen aus dem Magazin seiner Sitznachbarin und Laura gingen mit ihm durch Zoll- und Passkontrolle. Als er Marina sah, dachte er, »ja, natürlich.« Er fragte sich, ob es nicht merkwürdig war, dass sie eine stärkere Wirkung auf seine Gefühle hatte als alle, wenn auch imaginären, Schönheiten der Welt, die jünger und höchstwahrscheinlich empfindsamer und nicht so rastlos waren (kaum etwas war für ihn unpassender als Marinas stete Unruhe). Er wurde plötzlich wach und sogar fast entspannt und sagte:
    »Ein endloser Mensch.«

    »Wer?«, fragte Marina.
    »Nein«, sagte Andreas, »niemand. Ein Mensch ist überhaupt endlos.«
    »Meinst du ›unsterblich‹«, fragte Marina.
    »Nein, ich meine ›endlos‹. Nach außen, soweit die Vorstellung reicht. Und nach innen, soweit die Vorstellung reicht. Stell dir vor, wie furchterregend das ist. Eine formlose Unendlichkeit. Begrenzt für kurze Zeit von Körper. Es gibt Völker, die dieser natürlichen Formlosigkeit näher sind als die anderen. Nehmen wir zum Beispiel die Russen.«
    »Äh, warte, wir haben etwas stehen lassen, das ist auch der deine«, sagte Marina und zeigte auf Andreas’ kleineren Koffer.
    Andreas freute sich, dass er Marina wieder etwas Nützliches für ihr Deutsch beibringen konnte: »Deiner! Das soll ›deiner‹ heißen, nicht ›der deine‹.«
    Marina lachte und erinnerte Andreas an eine Stelle aus einem anderthalb Jahrhunderte alten russischen Roman, in dem eine Petersburger Deutsche sich für die kleinen Fehler in ihrem Russisch entschuldigt: »Meine Seele ist ganz russisch, aber die russische Sprache ist so schwierig!«
    Andreas schwieg und dachte, Marina will damit sagen, sein Russisch sei auch nicht fehlerfrei.

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SCHNEEMENSCH
    1.
    »Das ist deins«, sagte Natascha. Das hörte John ohnehin.
    »Ja, nein, oh nein, shit , gut, klar«, sagte John.
    »Folgendes, Mister Green«, sagte der Colonel: »Im Jahr 1988 hatten Sie eine Erfahrung mit dem auf den Hochebenen im Südosten der ehemaligen Sowjetunion eventuell verbreiteten Bigfoot. Die russischen Nachrichten berichten von einem im Nordkaukasus gefangen genommenen Schneemenschen. Da Sie sich mit dem Thema auskennen und sowieso fast da sind ( was denkt er sich, wo der Nordkaukasus ist? ), bitten wir Sie, morgen früh dorthin zu fliegen. Die Bahn- und Flugtickets und weitere Instruktionen und Papiere bekommen Sie im Konsulat. Ja, übrigens, Ihr sogenanntes ›Sabbatical‹ wird nicht verlängert. Sie werden so in drei Wochen an Ihrem Arbeitsplatz erwartet.«
    2.
    John stieg aus dem Flugzeug aus. Der trockene Wind roch nach erhitztem Staub. Die meisten Fluggäste gingen zu Fuß zum gläsernen Flughafen-Kubus. Einige wenige (Journalisten) wurden in einem Mikrobus mit der Inschrift VIP zu einem kleineren Kubus aus verdunkeltem Glas befördert (die ganze Strecke betrug etwa hundert Meter). Im Bus war auch der Russe »Fabian«, den John bereits im Flugzeug bemerkt hatte. Sie grüßten sich. John fragte, ob »Fabian« damals schnell den richtigen Weg gefunden habe.
    »Ja, habe ich, aber das ist schon fern und gar nicht mehr wahr. Urlaub ist kurz, Arbeit ist lang«, sagte er, und John freute sich, dass er nicht mit »macht frei« abschloss. Vielleicht ist er ja in der Tat Deutscher? Was war dann der russische Fluch aus dem im Milchnebel verrosteten Bus?
    Im VIP-Kubus durften sie Instant Coffee trinken, Zeitungen kaufen und auf Pkws warten, die sie in die Stadt bringen sollten. »Fabian« sagte, er heiße Fabian Braun und arbeite für die Deutsche Presse Agentur. »John Green, CNN«, sagte John.
    Durch die Frontscheibe konnte man ferne Berge sehen, wie sie im Himmel hingen und golden und blau leuchteten. Aber John beachtete sie nicht, er las die eben gekauften Zeitungen: Der Schneemensch sollte heute in der Frühe zu Untersuchungen nach Moskau abtransportiert werden. John wollte diese Nachricht dem Russen »Fabian« ins Englische übersetzen, um weiterhin nicht zu verraten, dass er ihn als Russen erkannt hatte. »Fabian« sagte: »Hab’ verstanden. Ich kann Russisch. Ich bin in Alma-Ata geboren und auf Theodor Fabian Reinhold getauft, bin Russlanddeutscher.« Diesmal war es John, dem ein schneller russischer Fluch entkam, worauf die zusammengewachsenen Augenbrauen des Fahrers aufflogen, wie Vögel über dem Meer, wie sie die Kinder malen.
    Und für wen bist du im gestreiften Plaid gereist? , dachte John.
    Auch der Ministerpräsident der Republik hatte

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