Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
Vom Netzwerk:
zusammengewachsene Augenbrauen, deren auffliegende Geste zu der angespannten Situation nicht ganz passte. Er musste nun eine Pressekonferenz geben, weil Enttäuschung und Empörung der einflussreichen Medienmagnaten zu groß waren, und erklären, alles sei bloß ein Scherz. Die Journalisten gaben nicht auf, stellten Fragen über die Verantwortung von Politik und Wissenschaft. Und natürlich wollten sie auch wissen, wie es in der Republik mit den Schneemenschenrechten aussehe. John wunderte sich, dass die westlichen und die russischen Journalisten die gleichen Fragen stellten. Nur die Vertreter der Nachbarrepubliken deuteten an, dass sich der Schneemensch aus ihren Territorien hierher verirrt habe und zurückgegeben werden müsse. Nach zwei Stunden gab der Ministerpräsident eine letzte und endgültige Version: Das ganze sei ein verzweifelter Versuch, Touristen in die Region zu locken. Er pries die Schönheit, den Reichtum und die Gastfreundlichkeit der Republik, lud alle Journalisten zu einer Informationsreise durch das Land ein und verließ die Bühne unter den zornigen Blitzen der Kameras. Journalisten notierten: »Ungeachtet der Proteste der Öffentlichkeit wurde der Schneemensch, nachdem er nach Moskau abtransportiert worden war, für nicht vorhanden erklärt.«
    Fabian flüsterte, dass sich der Präsident jetzt in einer heiklen Situation befinde: Die lokale Presse hätte die Nachricht zuerst verbreitet, und erst dann sei aus Moskau der Befehl zur Geheimhaltung gekommen.
    Sie saßen an einem festlichen Tisch, der Reichtum und Gastfreundlichkeit der Republik zu beweisen hatte, und hörten Trinksprüche, die ein jeder, bevor er sein Glas austrank, der Reihe nach sagen sollte. Die Gastgeber sprachen über die Schönheit der hiesigen Natur und der hiesigen Frauen (die Frauen hatten ihre Runde in einem Nebenzimmer, ein paar (nicht mehr als drei) Journalistinnen versuchten zu protestieren, aber ihre Kolleginnen, die meinten, man müsse die Sitten der Eingeborenen berücksichtigen und achten, gewannen die demokratische Oberhand). Die Gäste bedankten sich für die Gastfreundschaft. Manche tranken auf die Gesundheit des Schneemenschen, verlangten nach Transparenz und äußerten die Hoffnung, dass der Öffentlichkeit die Möglichkeit gegeben werde, die Untersuchungen zu beobachten. »Warum trinken die Männer hier, wenn sie alle so religiös geworden sind, dass sie die Frauen wegsperren?«, flüsterte John dem in hiesigen Sitten kundigen Fabian, der sein Tischnachbar war, ins Ohr. »Vergiss es, nach Jahrzehnten des Kommunismus weiß sowieso niemand mehr, was all das soll, sie nehmen sich nur die Vorschriften, die ihnen passen«, flüsterte Fabian, der aber gleich an der Reihe war, einen verschnörkelten Trinkspruch zum Besten zu geben.
    3.
    Am Morgen erschienen alle Männer mit schwerem Kater im Frühstücksraum. Die Frauen waren gut ausgeschlafen, frisch, sie tranken Sekt unter den vorwurfsvollen Blicken der Kellnerinnen in Kopftüchern und verteilten die zu unterschreibenden Briefe zur Unterstützung des Schneemenschen.
    John hatte ein bisschen Zeit zwischen Frühstück und Flug und ging in die Stadt. Enge Gassen liefen nach oben und nach unten, weiße Häuser bildeten Höfe, in denen Männer im Kreis hockten und sich unterhielten. Frauen in Kopftüchern gingen hin und her, mit Wassereimern oder mit Einkaufsbeuteln. Kinder mit Schultaschen schauten John frech an. Eine Gasse wurde immer steiler und menschenleerer. Sie führte nach oben und endete an einer Brüstung, hinter der die nach unten laufende Stadt zu sehen war. Manche Häuser erwiesen sich als Türme, auf einigen Dächern standen Taubenschläge, Menschen waren nicht zu sehen, in der Ferne schwebten blau-goldene Berge. An der Brüstung, unter einem Feigenbaum, sah er einen alten Mann mit langen weißen Haaren, der im Schneidersitz auf einer grün-orange gestreiften Decke saß und (dem Geruch nach) einen Joint rauchte. Der Mann hob seinen Kopf und John erkannte Mischa Bison. Auch in dessen Augen funkelte Wiedererkennen. »Ich kenne dich, du bist Amerikaner«, sagte er und streckte seinen Joint John entgegen. John nahm ihn und hockte sich neben Mischa Bison.
    Mischa Bison sagte: »… dann bemerkten die Götter, dass sie nicht alle Details ihrer Schöpfung durchdacht hatten. Zum Beispiel passten Tod und Krankheiten nicht einwandfrei ins ursprüngliche Muster. Auch Dürren, die zu Hungersnot führen, oder Erdbeben. Aber es war schon zu spät, als sie das bemerkten.

Weitere Kostenlose Bücher