Mörikes Schlüsselbein
Victor Gurjev abgeholt, dem Bruder ihrer Freundin Tonja, der hier seit fast drei Jahrzehnten lebte und russische Literatur unterrichtete. Sie beantwortete seine Fragen ( Ja, Andreas ist öfter als ich in Petersburg, ich glaube, das wird ein sehr gutes Buch, das er schreibt, schade, dass du Deutsch nicht liest, ja übrigens, Augenblick, ich schicke ihm schnell eine SMS, dass ich gelandet bin) , stellte die ihren (Ist Fjodor schon angekommen? / Wie geht es den Deinen? / Und den Enkelkindern? ) und schaute aus den Autofenstern, nach rechts, nach links, geradeaus, zurück, mit Bewegungstrieb nach dem Flug. Langsame amerikanische Fahrt (60 km/Stunde), perlgraue Trübe, vereinzelte metallische Scheunen, eine in alle Richtungen platte Landschaft, einstige Prärie, wo weiland – eigentlich nicht so lange her – die Bisons hin und her fegten, Indianer herumzogen, Tornados dröhnten, die Ankunft der Eisenbahn voraussagend, so wie Tornados jetzt, in der Beinah-schon-Nach-Eisenbahnzeit, die akustischen Phantome der Züge waren. Die Autos sind die Geister der Bisons, aus der Perspektive der einstigen Prärie. Gejagt von unsichtbaren rastlosen Indianern.
Marina war mit der unangenehmen Unruhe befasst, von der sie gehofft hatte, sie würde nach dem langen Flug über den Ozean von selbst verschwinden. Sie musste den Auslöser dieser Unruhe lokalisieren ( Was ist falsch , begann sie abzuhaken: Andreas? Nein, mit ihm war alles in Ordnung, soweit. Tickets, Pass, Gepäck? Nein, Blödsinn, alles ist da. Doch Andreas? Nein, nicht speziell. Ihr Vortrag für die Konferenz? Blieb da etwas, eine unsichere Stelle? Ach was, nein. Fjodor? Dass er wieder alles durcheinander bringt? Wird er, klar, aber auch das war es nicht ). Was denn nun? Sie wusste bald wieder, dass der Auslöser eine unbedeutende Episode war, ein Gespräch, wenn man es überhaupt Gespräch nennen durfte.
War diese unglückliche Eigenschaft, sich wegen einer Nichtigkeit zu quälen, wegen einer durch das eigene Ungeschick entstandenen Peinlichkeit oder wegen einer Fehlentscheidung, wegen einer falschen Bemerkung, speziell ihre, oder ging es den Menschen wie den Leuten? Man fragt nicht danach. Persönliche Dämonen sind in jedem Menschen eingesperrt, sie sind den persönlichen Dämonen der anderen Menschen so nahe wie die Menschen einander, wissen aber nichts voneinander. Wahrscheinlich tun sie nur so, als wüssten sie nichts voneinander.
Eine logische Auseinandersetzung mit dem Vorkommnis ergab zwar, dass kein Grund zur Unruhe bestand, befreite sie aber nicht von der Unruhe. Mit jemandem darüber zu reden, hätte das Peinlichkeitsgefühl etwas lindern können. Aber das Ganze war zu belanglos, nicht der Rede wert. Oder?
»Victor, ich wollte dich immer schon fragen, erzähl mir etwas von den Indianern, ja?«
»Wie bitte? Du bist wie ein Kind, Tonja hat recht. Was soll ich dir erzählen? Willst du ins Field-Museum? Da gibt es eine Indianer-Abteilung. Für die Kinder. Können wir machen. Später. Nach der Konferenz. Oder warte, ich kann dir sogar einen Azteken zeigen, aus Mexiko. Die Tochter unserer Freunde wird ihn bald heiraten. Er wird nur zuerst zum Judentum konvertieren müssen. Vorübergehend aber sind sie am Wochenende von seiner Familie zur katholischen Osterfeier eingeladen. Wir auch. Ich kann dich mitnehmen, glaube ich. Sie sind nette Leute. Und sie behaupten, sie seien Azteken, im Ernst.«
»Weißt du noch«, sagte Marina, die sich freute, dass sie deutsche Marzipaneier und Schokohasen im Gepäck hatte, »wie das bei Fjodor heißt? Irgendetwas von unsichtbaren Indianern, die immer noch da sind, von denen niemand weiß, wie sie wirklich waren. Auch die heutigen, die native Americans , können das nirgendwoher erfahren haben. Würden sie – die damaligen Indianer und die native Americans von heute – sich treffen, würden sie einander nicht wiedererkennen.«
»Übrigens Fjodor …«, sagte Victor.
»Da sind sie endlich!«, sagte Marina. Aus der Ferne zeigten sich die Türme Chicagos. Die Bisons verblassten. Die luftige Größe in der Ferne strahlte. »Wie haben wir alle dich geliebt, Amerika«, dachte Marina gerührt und konnte sich nun beinahe so entspannen, dass sie im Begriff war, Victor von dem Vorfall in Frankfurt zu erzählen, der sie beschäftigte.
»Übrigens Fjodor«, sagte Victor, «er ist noch nicht da, er hat seine Trinkphase, weißt du. Nachdem er seine Lesetour fast geschafft hat. Ausgerechnet jetzt, da er zu uns muss. In allen anderen
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