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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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als sechs Mal nacheinander in eine Schulhofschlägerei verwickelt war, musste ein Zahnarzt ein Loch in die Mitte eines der vorderen Zähne bohren.
    Die Englisch-Dame zeigte sich unbeeindruckt, sagte nur: »Es tut mir leid, Lilja, aber deine Geschichte ist nicht gut erzählt. Sag mir bitte, was soll das bedeuten: ›Mehr als sechs Mal nacheinander‹? Sieben Mal, nehme ich an? Dann sollte man das einfach so sagen.«
    Als Fjodor sie nach einigen Jahren wieder traf, war ihre Erzählkunst ausgefeilt, wie auch ihre Fähigkeit zu schockieren. Sie gab ein Hauskonzert und sang Straßenchansons, Vorortausfegsel aus dem frühen 20. Jahrhundert: von unkeuschen Tangotänzerinnen und eifersüchtigen Matrosen, von glitzernden Messern und klirrenden Armbändern, berauschend, blöd und blutig. Die Gastgeber, ein Sinologe und eine Tänzerin, versammelten bevorzugt Menschen um sich, die sich durch die eine oder andere Seltsamkeit auszeichneten. Beim Abendessen erzählte sie, wie sie sich von ihrem Mann, einem bekannten Bildhauer, getrennt hatte: »Ich habe ihm gesagt, er widere mich an, mit seinen ewigen Huren immer, auch im Atelier, vor allem im Atelier, weil sie angeblich Modell sitzen. Ich kam da hin, und da waren die zwei in meinen Unterröcken, ich habe klasse Unterkleider, second hand, vom Ende des 19. Jahrhunderts, im Ernst, cremeseiden und mit schwarzen Spitzen. Na gut, sie zogen sich um und gingen, und ich sagte, sein Hund, ein Airedale-Terrier, Bobby, sei mir nicht so widerlich wie er. Ich habe mich ausgezogen und mir Streichwurst hier hingeschmiert«, sie zeigte auf das Jeans-Dreieck zwischen Beinen und Bauch, »hab mich auf das Sofa gelegt und den Hund gerufen, der natürlich zu lecken begann. Meinem Mann war das mindestens genauso unangenehm wie mir die Damen in meinen Dessous. Hoffe ich. Es sah danach aus.«
    Fjodor ärgerte sich, dass sie solche Sachen in Gegenwart der kleinen Marina erzählte, die frech, hübsch, sechzehnjährig und mit den Gastgebern irgendwie verwandtschaftlich verbunden war. Andererseits war er neugierig, wie die kultivierten Gastgeber darauf reagieren würden. »Entzückend«, sagte Pawel, der Sinologe, als Lilja ging: »Kein Deut Vulgarität, alles Kunst. Eine perfekte Clownesse. Glauben Sie ihr kein Wort, Marina.« Tonja, die Tänzerin, lächelte. Das war eine untypische Reaktion auf Lilja, die meisten nannten sie Schlampe, spotteten und verachteten sie, meinten, sie sei dumm und sexsüchtig. Pawel meinte, sie sei aber weder das eine noch das andere. Ihm zufolge sei sie eine Art Frauenrechtlerin, die gegen die für Frauen vorgesehenen sozialen Rollen kämpfe, in der Privatsphäre.
    Aus ihrem Äußeren hatte sie ein Kunstobjekt gemacht, so dass man nicht mehr sagen konnte, ob sie hübsch oder hässlich war. Ende der 80er, kurz nachdem Fjodor eine flüchtige und für beide unangenehme Affäre mit ihr gehabt hatte, emigrierte sie in die USA, und gestern Abend, als Fjodor sie nach langer Zeit wiedersah, stellte er fest, dass sie mit fast 50 fast dasselbe Gesicht besaß, das sie sich damals erfunden hatte. Niemand mehr lachte sie aus. Als Sängerin, die es geschafft hatte, nicht nur in der Emigranten-Szene, sondern in anderen angesagten Clubs aufzutreten, wurde sie respektiert. Das Alter stand ihr gut. Ihr Wort hatte Gewicht. Aber Fjodor wusste, dass sie nie im Leben jemanden hochloben würde (wie sie ihn gestern hochgelobt hatte), ohne sicher zu sein, dass das der in der jeweiligen Situation gesellschaftlich vorteilhaftesten Meinung entsprach.
    Fjodor versuchte die unsauber rasierten Stellen zu entdecken, stieß mit der Zunge von innen gegen seine Wangen und Lippen und dachte, wie glücklich ihn eine solche Anerkennung einer angeheiterten und zufälligen Menschenansammlung noch vor einigen Jahren gemacht hätte. Aber seit er Natascha kannte, hatte die Intensität seiner Gefühle eine andere Richtung genommen. Meistens hatte er Angst, es könne ihr etwas zustoßen. Als hätte er ein Mädchen aus Kristall geheiratet, das jederzeit zerbrechen könnte; als wäre sie ein Zuckermädchen, das ihm wegschmelzen könnte.
    Als Fjodor gestern Abend erzählte, welche Schwierigkeiten er mit dem US-Visum gehabt hatte, antwortete ihm einer der Gastgeber mit gekränkt erhöhter Stimme: »Also, ihr sitzt da und esst amerikanisches Food und trinkt amerikanischen Whiskey und findet das beschissen, dass der Staat sich gegen Terroristen wehren muss.« Jemand sagte: »Scheißwhiskey« und »Scheißchicken«, und eine

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