Mörikes Schlüsselbein
Universitäten war es ein Erfolg, sagt John. Aber er meint, es hätte keinen Sinn, ihn jetzt zur Konferenz zu schleppen.«
»Hilfe!«, sagte Marina. »Aber zu seiner eigenen Lesung wird ihn John schon bringen?«
»Hoffen wir es«, sagte Victor, »ein paar Tage haben wir noch. Sonst wirst du ihn irgendwie vertreten müssen.«
»Hilfe!«, sagte Marina.
SELBST AUF DEN FIFTH AVENUEEN / WO DIE BISONS HIN UND HER FEGTEN
Der Taxifahrer mit kakaobohnenfarbenem Gesicht wechselte unterwegs fröhliche Flüche mit einem anderen Taxifahrer mit kaffeebohnenfarbenem Gesicht. Die Flüche blieben zurück und flatterten in der geschwinden New Yorker Nacht: auf den eben erblühten Pflaumenbäumen und auf den vielen Lichterketten ungewisser Herkunft. Während Fjodor die Tür öffnete, dann die Stanniolfolie von einer Praline abzog, in der Hoffnung, der entschiedene Schokoladengeschmack würde den von zu viel Alkohol ermüdeten Gaumen beleben, dann ungewaschen und unausgezogen ins überbreite Bett fiel, überlegte er, warum er seinen Fahrer als kaffeebohnenfarben und den anderen als kakaobohnenfarben sah. Lag wohl am Licht , dachte er, Kakao ist glänzend fett, Kaffee ist matt trocken , dann schlief er ein und träumte davon, dass beide Taxifahrer ihn als fucking Russian von der falben Farbe des Schmantes auf einem dünnen Tee beschimpften.
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Das gestreifte Licht glitt durch die Rollladen-Lamellen ins Zimmer, mattiert von der fein zuckenden Staubschwebe. Von seinem Bett aus, das fast den ganzen Raum in Anspruch nahm, konnte Fjodor sehen, wie das gestreifte Little Italy mit seinen Trattorien langsam vom gestreiften Chinatown mit seinen runden Papierlaternen angenagt wurde, und sich überlegen, was er zum Frühstück wollte: Espresso und Cornetto oder Jasmintee und Frühlingsrolle. Alle seine Sachen, von denen er meinte, sie seien wirr über das Zimmer verteilt, lagen mehr oder weniger vernünftig im Koffer, außer denen für heute Morgen. Das von gestreiftem Licht überzogene Laken war mit einem scheißefarbenen Belag befleckt. Fjodor sah all das ungläubig an. Er hatte also in der Nacht den Koffer gepackt und die Praline auf dem Laken liegen lassen, obwohl er sich deutlich daran erinnerte, wie er die Praline gegessen hatte und angezogen ins Bett gefallen war.
»Was wird das Zimmermädchen von mir denken!«, dachte Fjodor und dachte gleich an den armen Oscar Wilde, den ein Zimmermädchen vor Gericht damit blamierte, sie hätte Kotspuren auf seinem Laken entdeckt, was einen Analverkehr zu beweisen hatte.
Beim Zähneputzen und Rasieren unterhielten ihn die lebhaften Fetzen des gestrigen Abends. Er hatte zu viel getrunken nach seiner Lesung. Das anschließende Gespräch in einem Café-Club der hiesigen Russen war wie immer in ein paar letzte Fragen gemündet. Zum Beispiel wer der beste russische Dichter der Gegenwart war. Wie immer waren ein paar Kandidaten anwesend. Eine Sängerin, Lilja, mit großer Nase, dunklem, hoch über die Brauen geschnittenem Pony, rotem Mund und passend rauer Stimme, verkündete (schulterzuckend in dem Sinn, dass das kein Thema für eine Diskussion sei, dass alles doch klar sei), das sei er, Fjodor. Die meisten stimmten zu. Jetzt war ihm peinlich, an seine gestrige Freude zu denken. Er wäre gerne zurück in den gestrigen Abend, um dann die Gesellschaft rechtzeitig, also gleich nach der Lesung, zu verlassen.
Er kannte Lilja seit seiner frühen Kindheit. Ihre Eltern spielten im selben Orchester wie seine und waren genau so oft auf Gastspielreisen. Privilegierte einsame Kinder der sowjetischen künstlerischen Elite, besuchten sie denselben privaten Englischkurs. Die Englisch-Dame gab auch Konversationsunterricht: Die Zöglinge saßen an einem runden Teetisch und jeder hatte eine kurze Geschichte zu erzählen, worauf die anderen interessiert zu reagieren, am besten die Geschichte mit ein paar höflichen Fragen zu quittieren hatten. Nach dem Tee wurde die beste Geschichte gekürt: Jeder Erzähler bekam von den anderen Noten (verdeckt). Lilja war ein unschönes Mädchen. Ihre farblosen Haare waren damals zu zwei dürftigen Zöpfen geflochten, und zwei schicke Schleifen betonten nur deren Dürftigkeit. Schon damals begann sie eine abwehrende Extravaganz zu pflegen, die sie später bis zur Vollkommenheit entwickelte. Einmal erzählte sie, dass die Lehrerin in ihrer Grundschule jedem Kind, das mehr als sechs Mal nacheinander die schlechteste Note bekam, eine Fingerkuppe gekappt hatte. Und jedem Kind, das mehr
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