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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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große Wortschlacht zwischen den Russen, die hier residierten, und den Russen, die hier zu Gast waren, hob an. Letztere hatten am Anfang des Abends auf alles Russische geschimpft, und am Ende des Abends auf alles Amerikanische. Die hiesigen blieben konsequent US-Patrioten. Nur Lilja behauptete, Amerikaner seien alle blöd, außer den Schwarzen und den Fernost-Asiaten. Fjodor seinerseits trank einfach weiter. Schweigend. An Natascha denkend.
    Nach Zähneputzen und Rasur ergriffen ihn Übelkeit, Kopfschmerzen und Melancholie. Die Übelkeit hatte also nur eine Weile so getan, als bliebe sie aus. Die Kopfschmerzen ebenfalls. Die Melancholie hatte sich Fjodor eher ausgedacht, als Ablenkung von Übelkeit und Kopfschmerzen.
    Er rief die Rezeption an, wobei sein Magen auf jede Bewegung empört reagierte, und verlängerte seinen Aufenthalt um noch eine Nacht. Unklar war, wie er noch vor zehn Minuten an Frühstück hatte denken können.
    Sorry, John. Sorry, Marina, I can’t mich bewegen, ich entgleite der Welt in Übelkeit, Kopfschmerzen und Melancholie, really sorry.
    It’s fine , sagten die Dämonen.
    SELBST AUF DEN FIFTH AVENUEEN / WO DIE BISONS HIN UND HER FEGTEN
    »Nice to meet you!« Marina hebt ihr Glas, eigentlich in Panik, dass sie alle englischen Wörter im Stich lassen könnten, lächelt deshalb doppelt freundlich ihr freundlich lächelndes Gegenüber an und sagt in einem beschämenden Englisch: »Es ist wirklich großartig, dass die Universität eine so wunderbare Konferenz organisiert hat.«
    »Sie leben also in Deutschland? Ein Kollege von mir, er ist ein Österreicher, er erzählt, dass in Deutschland momentan antimuslimische Propaganda herrscht, damit vergleichbar, wie in der Nazizeit die Juden behandelt wurden.«
    Nicht aufregen! , sagt sich Marina, die, um sich auf diese Reise vorzubereiten, eine TV-Serie in der hiesigen Sprache angeschaut hat (36 Folgen, nach einer Empfehlung von Andreas), die sie allerdings mit einem völlig undienlichen Wortschatz ausgerüstet hat. Unter dem Einfluss dieser linguistischen Erfahrung entstehen Sätze wie, dass der Kollege ihres freundlichen Gegenübers ein Cocksucker sei, der sich diesen fucking Vergleich up his ass sticken könne, aber sie sagt, die richtigen Wörter zusammenkratzend:
    »Das ist genau das, was die Deutschen über die Amerikaner erzählen, zum Beispiel …«
    Doch ihr Gesprächspartner hat keinen Bock zu warten, bis sie ihr »example« formuliert. Er erzählt bereits einer Dozentin, Miss Black, dass Marina aus Deutschland gekommen sei und dass in Deutschland momentan eine antimuslimische Propaganda herrsche, die mit der antisemitischen Propaganda der Nazi-Zeit vergleichbar sei.
    »Oh«, sagt Miss Black, »sehr interessant! Übrigens, das ist meine Freundin aus Berlin, Katrin.«
    »Ach«, sagt Katrin, »was ich gerade erzählt hatte: dieser schreckliche Archäologe mit Tropenhelm, dieser Ägypter, er wollte unsere Nofretete nur zurück, um Mubarak noch reicher zu machen. Eine Unverschämtheit!«
    Die Amerikaner konnten sich nicht für die deutsche Nofretete erwärmen, für die einäugige Schönheit mit sehnigem Hals, die zu sehr nach der Mode des Jahres 1912 aussah, um keine Fälschung zu sein. Andererseits war es kaum vorstellbar, dass jemand als Autor eines solchen Meisterwerks in der Anonymität eines Fälschers geblieben wäre. Oder ist sie womöglich kein Meisterwerk, und alles war nur eine gelungene Werbekampagne und eben Mode? Kann man das nach so vielen Jahren Bewunderung unterscheiden?
    »Und überhaupt«, setzt Katrin fort, »wer würde sich heute in Ägypten für das alte Zeug interessieren, wären da nicht die Europäer, die seit zwei Jahrhunderten ihre Ägyptomanie pflegen? Zum Beispiel Napoleon …«
    Aber niemand hört mehr zu. Miss Black fragt, ob Marina den russischen Dichter Fjodor Stern persönlich kennt, und Marina freut sich über das Thema, bei dem sie sich endlich sicher fühlt. Da verlieren alle zur gleichen Zeit jedes Interesse am Gespräch und wenden sich jeweils an eine andere Person.
    Marina denkt an Elias Canettis Behauptung, dass jemand, der auf einer Londoner Party seinen Gesprächspartner mehr als fünf Minuten mit demselben Thema belastet, als »selfish« gelte. Hier scheinen sie ähnlich zu empfinden. »Canetti hat sich allerdings auf diesen Partys seinen Nobelpreis erstanden«, sagt sie dem schnell vorbeilaufenden Victor.
    SELBST AUF DEN FIFTH AVENUEEN / WO DIE BISONS HIN UND HER FEGTEN
    »Can I have an ashtray please?«,

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