Möwenfluch (Vloek op Meeuwen) (Möwennest) (German Edition)
hätten, nachdem du ihnen erzählt hättest, was in dieser Nacht geschehen ist?“, fragte sie und bog um die nächste Straßenecke. Harry zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung.“
„Ich will es mir auch lieber nicht vorstellen. Und jetzt komm schon. Der Bus nach Westenschouwen fährt in vier Minuten.“
„Bus?“
„Ja, oder willst du lieber laufen?“
Harry schüttelte den Kopf und doch kam ihm die Vorstellung mit einem Bus aus Zierikzee zu verschwinden ziemlich lächerlich vor, andererseits kannte er Inga seit zehn Jahren und war ziemlich sicher, dass sie kein eigenes Auto besaß.
„Dann ist ja gut. Wir haben eine Menge Arbeit vor uns“, sagte sie, mehr verriet sie ihm nicht. Es war also tatsächlich ihr Ernst.
Harry war noch nie in seiner Kleinganovenkarriere mit einem öffentlichen Verkehrsmittel vor irgendetwas geflohen. Gewöhnlicherweise organisierte man sich ein Fluchtfahrzeug und wenn es nur ein Bromfiets war.
Noch während sie in die Linie 304 stiegen, die sie über Seeroskerke und Haamstede zum westlichen Ende der Halbinsel bringen würde, rechnete er fest mit einem Scheitern dieses Plans. Selbst als sich die Türen hinter ihnen geschlossen hatten und der Bus anrollte, glaubte er nicht, dass das alles so einfach war, aber von Viktor und den Jungs fehlte jede Spur.
Auch als sie in Westenschouwen ausstiegen, gab es keine Anzeichen dafür, dass sie verfolgt wurden. Die Gründe dafür mochten vielfältig sein, zu allererst hatten die Jungs natürlich Sklaaten verfolgt, aber dass sich so gar keiner an ihre Fersen geheftet hatte, war geradezu unheimlich. Mit lautem Zischen fuhr der Bus davon und ließ Harry und Inga allein an der Bushaltestelle zurück. Sie hatten die Straße nicht ganz überquert, da wurden sie mit etwas konfrontiert, das ein absolutes Novum für die engen Gassen des Dorfes war. Die Straßen waren völlig verstopft. Menschen, hunderte, tausende, eine wahre Touristenschwemme hatte den kleinen Ort heimgesucht.
„Was machen die alle hier?“, fragte Harry. Die schiere Anzahl verwirrte ihn, mehr noch, sie war beängstigend.
„Gaffen, das sind sensationsgeile Gaffer. Der Einsturz von Het Meeuwennest wird zu einem riesigen Medienspektakel in dieser Region. Es hat vorgestern angefangen und wird von Tag zu Tag schlimmer. Das sind die ersten Katastrophentouristen und das ist gar nicht gut“, antwortete Inga mit unverhohlenem Zorn in der Stimme. Sie zog ihn durch die Straßen und trieb ihn an, sich zu beeilen. Erst als sie den Blumen-und Souvenirladen erreicht hatten und sie die Tür hinter ihnen beiden verschlossen hatte, wagte die alte Frau durchzuatmen.
Sie durchquerten einen kurzen Flur, an dessen rechter Seite eine steile Treppe in die obere Etage führte, obwohl es sich bei dieser Etage eigentlich nur um einen kleinen abgeschrägten Raum handelte, in dem ein Bett und einige niedrige Kommoden standen.
Die Küche des Häuschens hatte eine Tür mit rundem Glasfenster, die nach hinten hinaus in einen Garten führte. Inga bat ihn, Platz zu nehmen.
„Tee?“, fragte sie und setzte Wasser auf.
Harry verneinte. Er schaute aus dem Fenster, während Inga den Gasherd anwarf.
Die Sonne stand bereits tief. Der Himmel war blau ohne eine einzige Wolke. Hinter Inga Heemsteddes bescheidenem, gepflegten Gemüsegärtchen begannen die Dünen. Ein Trampelpfad führte dort hinauf und endete oben an einer verwitterten Bank. Gemütliches Fleckchen.
„Dort oben hat man die beste Aussicht auf den Strand, auf deine Baracke, Haus kann man das ja kaum nennen, und auf die Sandbank“, begann Inga und warf vier Teebeutel in eine Kanne. „Von dort aus habe ich euch vor drei Abenden gesehen. Dich und diesen anderen Typen.“
Harry riss den Blick vom Fenster los und schaute sie fragend an. Das Wasser kochte mittlerweile.
„Jetzt frag nicht, wieso ich nichts unternommen habe“, sagte Inga, nahm den Topf vom Herd und goss den Inhalt in die Kanne. „Das habe ich nämlich sehr wohl, nur hat niemand auf mich gehört.“
„Ich wollte nicht …“
„Oh doch, Harry Romdahl . Ich kann es deinem vorwurfsvollen Gesicht ansehen. Musst da draußen einiges durchgemacht haben. Das tut mir leid, aber…“, sie unterbrach und holte eine Flasche Scotch aus dem Küchenregal.
„… ich muss dir leider sagen, dass das leider erst der Anfang war.“
„Was?!“ Harry sprang auf.
„Tee?“, fragte sie erneut mit ruhiger Stimme und schenkte ihm in aller Seelenruhe eine Tasse ein, ohne dass er dazu kam zu
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