Möwenfluch (Vloek op Meeuwen) (Möwennest) (German Edition)
dabei, an welcher Stelle dieser Geschichte er einen Fehler gemacht hatte. Er war drauf und dran in einen todbringenden Teufelskreis zu geraten, da war er sicher. Was er nicht wusste, war, dass er bereits mittendrin steckte. Und so jagte ein Gedanke den nächsten und ließ ihn kaum einmal zur Ruhe kommen.
Nach langem Hin und Her schlief er dennoch wieder ein. Sein Körper war immer noch erschöpft und brauchte diese Auszeiten, um sich zu regenerieren.
***
Am frühen Abend weckte ihn Inga.
„Aufwachen, Harry. Alles in Ordnung bei dir?“
„Fühle mich besser, aber nicht viel“, murmelte er.
„Immerhin ein Anfang. Komm runter, wir müssen reden.“
In der Küche wartete ein kaltes Mittagessen, bestehend aus Frites spezial und einer Portion Kibbeling mit reichlich Remoulade. Harry schlang alles herunter und griff bereitwillig nach dem Tee, der ihm angeboten wurde.
Erst als er fertig war, bemerkte er, dass Inga die wenigen Fenster mit improvisierten Gardinen verhängt hatte. Eigentlich war es in Holland nicht üblich, anderen den Blick durchs Fenster zu verwehren. Es war ein uraltes Selbstverständnis, das jedem deutlich zeigte, dass der Haus- oder Wohnungsbesitzer nichts zu verbergen hatte. Niederländer hatten einfach weniger ein Problem damit, dass andere Leute im Vorübergehen einen Blick riskierten. Sie scherten sich nicht darum, was andere dabei denken mochten. Es war unkompliziert und unnötig sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Schwerer wurde es da schon, wenn die Fenster nichts preisgaben, denn das war definitiv verdächtig.
Harry bat Inga, die Vorhänge wieder wegzunehmen. Sie tat es, wenn auch nicht gerne. Dafür stellte Harry seinen Stuhl an eine Stelle, sodass es schwierig bis unmöglich war, ihn mit einem flüchtigen Blick durch eines der Fenster zu erblicken. Inga hingegen postierte sich genau vor dem großen Fenster an der Spüle und nahm damit jedem die Möglichkeit mehr zu sehen, als die krause ergraute Haarpracht ihres Hinterkopfes.
Die Minuten vergingen und zunächst machte Inga keine Anstalten etwas zu sagen. Sie nippte an einer alkoholfreien Tasse Tee und schwieg. Auch Harry unternahm nichts, um die bedrückende Stille zu unterbrechen. Der Besuch der Männer am Mittag wirkte nach, auch wenn das nicht der einzige Grund für seine Niedergeschlagenheit war.
„Nun“, seufzte er endlich. „Ich bin verwirrt, verängstigt und was weiß ich.“
Inga nickte: „Das kann ich verstehen.“
„Ich weiß nicht, ob du das wirklich verstehst, Inga. Ich kenne dich seit zehn Jahren, du hast mir jede Menge schauriges Zeug über einen teuflischen Ari Sklaaten und sein verfluchtes Restaurant erzählt. Ich war da und es stimmte. Sklaaten ist ein durchgedrehter Spinner und diese Vögel dort draußen sind nicht … normal. Und doch scheint das nicht die ganze Wahrheit zu sein. Herrje! Ich meine, du hast mich aus dem Krankenhaus geschleppt und mich dazu angestiftet, Ari, den ich für tot hielt, ebenfalls rauszuholen. Ich weiß überhaupt nicht, was hier läuft. Irgendwie scheint alles an mir vorbeizulaufen, seit man mich aus dem Wasser gezogen hat. Habe ich einen Schlag zu viel abbekommen? Wenn ja, sag mir das bitte. Du weißt, ich vertraue dir. Du bist der ehrlichste und aufrichtigste Mensch, den ich in Westenschouwen kenne. Im Moment kapiere ich nichts, überhaupt gar nichts.“
Jetzt seufzte Inga und ein schmerzlicher Ausdruck trat in Ihr Gesicht, sodass es knitterig und faltig aussah.
„Es tut mir wirklich leid, Harry. Aber es ist eine lange Geschichte und ich weiß nicht, wie viel Zeit wir haben. Dinge sind ins Rollen gekommen, die danach verlangen, dass wir uns an die Arbeit machen, bevor es zu spät ist.“
Harry schüttelte den Kopf.
„Wie kann ich dir helfen, wenn ich nicht mal weiß, um was es dabei geht und wie die Hintergründe sind. Fang an. Wir werden sehen, ob es etwas bringt.“
Die Züge in Ingas Gesicht veränderten sich. Sie rang sich ein Lächeln ab, leerte ihre Tasse, sagte: „Also gut“, und begann.
„Einiges weißt du schon. Ich habe es dir erzählt, vielleicht ein bisschen dick aufgetragen, aber es entsprach in großen Teilen der Wahrheit. Es gibt allerdings einige Ereignisse, von denen du Nichts weißt. Im Winter 1979…“
Kapitel 4
Winter 1979, Schouwen-Duiveland
Zwei Monate waren vergangen, seit Ari Sklaaten in Ingas Blumenladen aufgetaucht war. Seitdem hatten sie nur noch einmal länger telefoniert. Ari hatte Besorgnis geäußert und
Weitere Kostenlose Bücher