Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
Haare verrottet und nass, die zerfetzte Gesichtshaut schimmerte weißlich, gesprenkelt mit blauen und grünen Flecken. Einen Augenblick stand sie nur da, dann hob sie beide Arme und verzerrte schmerzerfüllt das Gesicht. Ihre Hände fehlten. Wasser und Blut tropften von den Stümpfen auf den steinernen Fußboden. Dann begann sich ihr Gesichtsausdruck zu verändern. Boshaftigkeit und Verschlagenheit mischten sich in ein wissendes Grinsen, das sich in Ingas Hirn brannte …
„Inga? Sind sie noch bei mir? Was ist denn da?“ Ari Sklaaten schien verwirrt, er folgte Ingas Blickrichtung und drehte sich noch verwirrter wieder zu ihr. Dort war nichts. Die Frau war verschwunden.
„Was ist denn da so besonders an der Regalecke? Sie sehen ja fürchterlich aus. Fast so als hätten Sie einen Geist gesehen.“ Je mehr er sagte desto besorgte wirkte er. „Geht es ihnen gut, Inga?“
Inga riss den Blick von der jetzt wieder leeren Stelle, blinzelte und bemerkte, dass sich ihre Finger an den Tisch krallten, sodass die Fingerkuppen weiß geworden waren.
„Ich dachte, ich hätte etwas gesehen“, antwortete sie matt. Sie fühlte sich plötzlich müde und schwach. Die Erklärung war banal und einfach, sie hatte seit fünf Tagen nicht mehr richtig geschlafen und benötigte dringend Ruhe. Sie wollte dieses Treffen aber nicht ergebnislos platzen lassen, also sagte sie nur: „Fahren Sie nur fort, Ari. Ich höre Ihnen zu, auch wenn ich immer noch nicht weiß, wie ich Ihnen noch weiterhelfen kann.“
„Ja, nun. Äh, ja. Wie ich sagte, ist diese Geschichte lange her und ich bin - wie ebenfalls erwähnt - nicht abergläubisch. Nun ist die Sache folgende: Vor etwa drei Stunden fand ich in den Unterlagen eines längst verstorbenen Polizisten, der seine privaten Aufzeichnungen dem Archiv überließ, einen kurzen Presseartikel und Fotos. Der Artikel und die Bilder sind datiert auf den fünften November 1952.“
Oh, nein.
Allein die Jahreszahl ließ Inga innerlich zusammenzucken. Es war das Jahr des großen Unglücks gewesen. Schlimme Dinge waren passiert.
Ari Sklaaten holte eine vergilbte Zeitung hervor, dazu drei Schwarz-Weiß-Aufnahmen.
„In diesem bilderlosen Artikel hier steht unter dem Titel Kindermordserie in Westenschouwen Folgendes“, sagte er und las Inga den Artikel vor.
„Zierikzee, Zeeland. Eine erschütternde Kindermordserie hält die Bewohner der Ortschaft Westenschouwen in Atem.
In dem Fünfhundertseelendorf am Westende der Halbinsel Schouwen-Duiveland, wurden in den vergangenen zwei Wochen bereits vier Kinderleichen am Strand entdeckt (unsere Zeitung berichtete). Die Opfer, alle im Alter zwischen acht und zwölf Jahren, waren auf brutale Weise entstellt worden. Gestern folgte ein weiterer grausiger Fund. Instandsetzungsarbeiter der Zeelandweer Co. zogen in der Nähe des Weers ein totes Mädchen von gerade sieben Jahren aus dem Wasser. Wie die anderen Kinder wurde auch das jüngste Opfer fürchterlich zugerichtet. Die Polizei geht von einem Serienmörder mit einem zügellosen Hass auf Kinder aus und ermittelt fieberhaft in alle Richtungen, möchte sich zu dem Fall jedoch im Augenblick noch nicht äußern. „Sobald etwas Sachdienliches bekannt wird, werden wir uns damit an die Öffentlichkeit begeben“, sagte ein Polizeisprecher und bat die Anwesenden, um die notwendige Geduld und Ruhe, die man für zielführende Ermittlungen benötige. Nach diesen und ähnlichen Aussagen darf derzeit bezweifelt werden, dass in diesem Fall fürchterlicher, verabscheuungswürdiger, sinnloser Gewalt bereits eine heiße Spur verfolgt wird. So läuft ein bestialischer Mörder weiter unbehelligt in Freiheit herum und niemand weiß, ob oder vielmehr wann er wieder zuschlagen wird. Der kleine Ort hat mittlerweile auf seine Art reagiert. Die Dorfschule wurde bis auf Weiteres geschlossen und allen Eltern ans Herz gelegt, ihre Kinder zu Hause zu behalten, solange der Kindermörder weiter auf freiem Fuß ist.“
Er legte die Zeitung beiseite und wartete auf Ingas Heemsteddes Reaktion, aber Inga blieb stumm. Sie schaute ihn nur an und bemerkte dabei, wie ihr eine einzelne Träne die Wange herablief.
Ari verzog keine Miene und schob ihr die Aufnahmen rüber. Sie musste nicht einmal darauf schauen, um zu wissen, was auf den Fotos, die zweifelsohne aus der Beweisaufnahme der Polizei stammten, zu sehen war.
Ins Leere starrende Kinderaugen, verdrehte Köpfe und klaffende Löcher im Halsbereich. Zuletzt noch ein scheußliches Detail, das
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