Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
und Harry wollte nur noch eines, aufwachen.
Als es erneut klopfte, seufzte er.
„Schon gut, schon gut.“
Er drehte den Schlüssel und öffnete. Im Flur stand Inga. Ihr Gesichtsausdruck sagte alles und er musste ihr nicht einmal anvertrauen, was er im Moment fühlte. Sie wusste es und sie hätte ihm sofort geholfen, wenn sie gekonnt hätte. Die Realität sah anders aus.
„Er ist verwirrt und panisch. Seit er aus dem Krankenhaus getürmt ist, haben die ihn verfolgt. Er dachte, du wärest einer von diesen Männern und würdest in meinem Haus rumschleichen. Er hat mir …“
Harry legte einen Zeigefinger an den Mund, er wollte keine Entschuldigungen hören.
Sie gingen gemeinsam in die Küche. Es roch noch immer stark nach Alkohol.
„Den Geruch habe ich sicher noch tagelang im Haus“, sagte Inga.
Harry nickte. „Was für eine Verschwendung.“
Ari Sklaaten saß zusammengesunken auf dem Stuhl, auf dem Harry den Abend über verbracht hatte. Er trug immer noch den Mantel, die Sturmhaube lag auf seinem Schoß. Sein Haar war strähnig und es war kaum noch blond. Viel mehr überwog schwarzes Haar. Es war lang, zerzaust, fettig. Ari drückte einen Beutel Tiefkühlerbsen auf seinen Hinterkopf. Er war zweifelsohne zäh wie Leder, aber der massiven Glasflasche von Ingas Scotch hatte er nichts entgegenzusetzen gehabt.
„Tut mir leid, Harry, dachte du wärst wer anders. Haben wenig Zeit weißt du und viele Feinde“, brabbelte er. Es war die gleiche Tonlage, die er schon auf der Sandbank hatte. Er war eindeutig nicht ganz bei Sinnen und Harry fragte sich unwillkürlich, seit wann Ari Sklaaten mehr als nur ein paar Schrauben locker hatte.
„Er ist durcheinander, macht sich Vorwürfe. Er braucht etwas Zeit, um wieder klarzukommen“, entschuldigte sich Inga an Aris Stelle, obwohl Harry sicher war, dass er nichts gesagt hatte.
„Verwirrt? Ich? Nein, ich hab alles gesehen. Der da hat alles kaputt gemacht. Das Spruchband, es war an der Falltür angebracht im Speiseraum, genau über ihm. Es wäre nie rausgekommen, wenn der nicht gekommen wär. Es war die einzige Möglichkeit, es zu bändigen. Ich kam nicht an die Kiste ran, all die Jahre nicht, sonst hätte ich ‘s ein für alle Mal weggesperrt. Es ist frei, ist frei jetzt und mein Restaurant ist zerstört. Ich … Ich … Ich … Inga…“
Er gab noch einige weitere Sätze von sich, aber das meiste waren zusammenhanglose Wortgebilde. „Es ist Glaube und Nichtglaube. Das macht den Unterschied. Glaube, Glaube ist der Schlüssel. Er heiligt die Mittel … unter allen Umständen. Wer nach der Wahrheit sucht, wird die Wahrheit finden, in Himmel oder Hölle.“
Inga redete beruhigend auf ihn ein und versuchte ihr Möglichstes, um ihm die Situation klarzumachen.
Mitten in ihren Ausführungen sprang er auf und rief: „Als ob ich ‘s nicht wüsste! Ich war da. Es ist wieder hier. Die Kinder ohne Hände. Es wird wieder damit anfangen! Müssen es aufhalten, bevor ‘s zu spät ist.“
„Beruhig dich Ari!“, mahnte Inga. Da hatte Harry längst die Hoffnung aufgegeben, dass Ari in seinem Zustand auf irgendjemanden hören würde, doch er tat es. Er atmete mehrmals tief ein und, schwieg für eine Weile und schien bemüht, zuzuhören.
Inga versuchte ihm noch einmal zu erklären, wie er ihr helfen konnte.
„Wir müssen wissen, was du weißt Ari. Ich bitte dich, als gute Freundin, als jemandem dem du absolut vertrauen kannst. Du hast zwanzig Jahre gegen den Fluch angekämpft. Es ist genug. Du hast alles getan. Lass dir diese Bürde von den Schultern nehmen und hilf uns. Wir müssen wissen, welche Lösung du gefunden hast. Erzähl es uns, bitte.“
Ari schwieg, er schaute sie an, seine Pupillen zuckten. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Ari, bitte. Wir haben keine Zeit mehr“
„Nein, keine Zeit, stimmt. Es ist hier, spüre es überall. Was ihr braucht, hab‘ ich versteckt … Hab ‘s versteckt, Inga, bei ihm.“ Er wirbelte herum und zeigte mit zitternden Fingern auf Harry.
„Gut Ari, sehr gut, aber du musst uns sagen, was es ist. Wir müssen wissen, wonach wir suchen müssen. Mach es uns nicht so schwer, alter Freund.“
Sklaaten antwortete ihr nicht, stattdessen veränderte sich sein Gesichtsausdruck mit einem Mal. Er wirkte, wie ein Getriebener, wie ein Flüchtling den seine Verfolger in seinem letztmöglichen Versteck aufgespürt hatten. Ein Kaninchen vor der Schlange.
„Es ist hier, genau jetzt. Gar nicht mehr fern … Nein, nein …“,
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