Mogelpackung: Roman
martialisch verbogener Felge auf dem Kies, daneben ein schwarzer Rucksack, aus dem Schulsachen hervorquollen. Der Junge hob sein Gefährt auf und lehnte es achtlos ans Garagentor. Seit ihrer letzten Begegnung war Tim reichlich in die Höhe geschossen, Fredo schätzte ihn auf knappe eins siebzig und ein paar Pfund unter Normalgewicht. Der Junge trug Jeans und trotz aprilfrischer Temperaturen von bestenfalls sechzehn Grad lediglich ein schwarzes Rammstein-T-Shirt mit dem Bandnamen auf dem Rücken und auf der Brust den Slogan: STACHELDRAHT IM HARNKANAL. Was immer das heißen sollte, es gab Fredo zu denken. Bis er auf Tims rechtem Kurzärmel ein herzförmiges Logo mit der Inschrift LIEBE IST FÜR ALLE DA entdeckte. Wie niedlich. Vorne Provokation, hinten Heavy Metal und dazwischen nach Streicheleinheiten flehen. Mit diesem Shirt, seinen linkischen Bewegungen und dem leichten Anflug von Gesichtsakne sah Tim aus wie eine fleischgewordene Litfaßsäule der Pubertät.
»Dann sind Mama und Papa also weg, wie geplant?«
Tim wirkte plötzlich reichlich angespannt, fand Fredo. Wenigstens eins ihrer beiden Kinder schien Nicole und Markus zu vermissen. »Sollten jetzt in der Luft sein«, bestätigte er. Hoffentlich fing der Junge nicht gleich an zu weinen.
Tim überraschte seinen Onkel mit einem erleichterten Grinsen. »Dann ist ja gut. Habt ihr schon gegessen?«
Fredo nickte. »Auf dem Herd steht Suppe. Komm, ich leiste dir Gesellschaft.«
»Lass mal«, wehrte der Junge ab. »Ich nehme mir einen Teller mit hoch. Muss noch was für die Schule tun. Bin sowieso spät dran heute.« Flink stopfte er die herumliegenden Schulsachen in den Rucksack zurück und warf ihn sich lässig über die Schulter. »Nett, dass wir uns mal wieder treffen, Onkel Fredo. Man sieht sich.« Damit stapfte Tim davon und verschwand im Haus.
Der hat alles im Griff, dachte Fredo zufrieden. Sogar seine Schulaufgaben. Timmie würde ihm keine Probleme bereiten. Das war doch schon mal etwas. Dafür erwies sich die Kofferraumklappe des Daimlers als nächste Plage. Bedingt durch den vom Fahrradeinschlag hinterlassenen Krater hakelte und klemmte das Teil gewaltig. Endlich ließ es sich öffnen, und nachdem Fredo sein Gepäck glücklich geborgen hatte, bekam er die Klappe sogar wieder zu – wenn auch erst nach mehreren brachialen Versuchen.
Das Gästezimmer lag im Erdgeschoss, zum Garten hinaus, und war eher eine Einliegerwohnung. Es gab ein eigenes Bad mit blitzenden Kacheln und geschniegelten Armaturen, einen hell und freundlich möblierten Wohnraum und ein frisch bezogenes Doppelbett. Neben der großen Fensterfront führte eine Glastür hinaus auf die separate Gästeterrasse. Dort stand unter einem fest installierten Sonnendach ein einladend gepolsterter Teakholz-Deckchair mit Fußhocker. Fredo stellte das Gepäck ab, erwog kurz, sein Notebook anzuwerfen und ein bisschen zu arbeiten, stellte fest, dass es für ihn derzeit ja gar keine Arbeit gab, und beschloss deshalb gähnend, das Projekt Siesta in Angriff zu nehmen. Vielleicht kam ihm im Halbschlaf die Idee für ein grandioses Drehbuch. Das schrieb sich dann quasi von selbst, bevor man ihm das Meisterwerk für ein fettes Honorar aus der Hand reißen würde. Warum nicht.
Im Kleiderschrank fand sich eine Wolldecke. Er nahm sie mit auf die Terrasse, schob den Deckchair in die Nachmittagssonne, wickelte sich in die Decke und machte es sich bequem. Sanatorium Bornstedt. Fredo Fried als Hans Castorp in der zeitgemäßen Neuverfilmung von Thomas Manns »Zauberberg«.
Alles auf Anfang. Uuund bitte: Klappe.
Bild eins, Tag. Die Terrasse liegt still im Sonnenschein. Fried alias Castorp lümmelt, eingewickelt wie ein Würstchen im Schlafrock, auf einem bequemen Deckchair. Seine Miene ist entspannt und signalisiert Wohlbehagen, bis sein träge wandernder Blick zwischen Sonnendach und Hauswand an einem Spinnennetz hängenbleibt. Im Netz zappelt eine fette Fliege, kämpft in verzweifelten Energieschüben mit schwirrenden Flügeln um ihre Freiheit. Doch jede Aktivität verstrickt sie nur unentrinnbarer in die zähen Fesseln. Die Intervalle zwischen den Befreiungsversuchen werden länger, bis das ermattete Insekt schicksalsergeben buchstäblich in den Seilen hängt. Fried/Castorp kann es nicht mit ansehen und schließt die Augen. Fünfzehn Jahre lang hast du mit den Flügeln geschlagen, sagt er sich und denkt an die Städte, die Universitäten, die Jobs seines Lebens. Und an die Frauen. Das lief immer zusammen, ohne
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