Moloch
damit die Gelegenheit verschafften, sein Angebot vorzutragen und seine Bitte.
Kein anderer als er hätte bis hierher vordringen können und wäre lange genug am Leben geblieben, um es zu versuchen. Er war die letzte Chance. Kein anderer als er konnte hoffen, dass der Großmächtige ihm sein Ohr leihen würde.
Er warf sich nicht zum Kotau vor ihm in den Staub, schwang keine großen Reden. Er hatte keine Hintergedanken. Er kam, der selbst ernannte General von London, Sprecher der Menschheit, im Bewusstsein der Tatsache, dass seine Seite den Krieg verloren hatte, und bat um Frieden für ein besiegtes Volk.
Ihr braucht uns nicht mehr zu töten, dachte er. Ihr habt gesiegt.
Das Schluchzen des Liverpooler Offiziers hatte Sholl die Idee eingegeben. Er hatte nachts im Flur vor dem Funkraum gestanden und hörte beklommen, wie drinnen der Mann weinte und den Äther nach einem menschlichen Geräusch absuchte. Das erbarmungslose weiße Rauschen hatte an seinen Nerven gezerrt.
Was, wenn jeder wartete, hatte er gedacht, auf ein Wort, auf Anweisungen, und es gab keinen Weg, die Nachricht zu übermitteln? Vielleicht saß die Regierung noch in irgendeinem Bunker unter der Erde und traf Entscheidungen bar jeder Relevanz. Vielleicht waren sie alle tot. Es machte keinen Unterschied. Sie konnten von drinnen ihre Truppen nicht erreichen, und draußen fühlte sich niemand befugt, Entscheidungen zu treffen. Soldaten werden fürs Kämpfen bezahlt, und diesen Auftrag versuchten die verstreuten Einheiten zu erfüllen, in unkoordinierten Aktionen, wurden niedergemetzelt, wenn die Imagos es der Mühe wert erachteten. Doch Kämpfen ist nicht alles, was Soldaten tun: Manchmal kapitulieren sie.
Genau das war das Gebot der Stunde. Diese Überzeugung festigte sich in Sholl. Angenommen, die Imagos waren nicht auf sinnloses Abschlachten erpicht, sondern führten den Krieg weiter, weil niemand ihn für beendet erklärt hatte? Warteten genau wie die Soldaten. Auf eine Entscheidung, eine Order, doch von wem? Woher?
Was, wenn keiner mehr lebte, der befugt oder befähigt war, den Befehl zum Aufhören zu geben? Würden die Kampfhandlungen weitergehen, bis sie sich buchstäblich totgelaufen hatten?
Erst sein Abenteuer in der U-Bahn-Station von Hampstead hatte Sholl überzeugt, dass er für die Vampire tabu war, doch vorher schon ahnte er, dass sein bisheriges Überleben dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit zuwiderlief. Er hatte weniger und weniger Anstrengungen unternommen, sich zu verstecken, und die Fauna der Spiegel, Imagos wie Kroppzeug, machte unweigerlich einen Bogen um ihn, wich ihm aus, ohne Respekt oder Furcht erkennen zu lassen, sondern als ob sie etwas witterten.
Erst hatte Sholl an Zufall geglaubt, dann begann er sich zu wundern, suchte nach einem Grund und kam endlich zu dem Schluss, dass er für irgendeine Aufgabe auserwählt war. Für diese Aufgabe. Er verlieh sich selbst die Autorität, für die Menschheit zu sprechen. Zu kapitulieren. Judas-Messias.
Er forderte nicht, doch stellte er Bedingungen, die ihm annehmbar erschienen – Bedingungen für eine vorbehaltlose, aber ehrenvolle Kapitulation. Ein Ende der Feindseligkeiten. Entrichtung von Tribut, in Naturalien oder Servilismus, in Form von Anbetung, falls der Fisch aus dem Spiegel es wünschte. Was immer notwendig war. Im Gegenzug durfte die Menschheit weiterleben.
Vielleicht werden wir Nomaden sein, sinnierte er. Oder Bauern oder Knechte, die Londons Ruinen umpflügen. Eine bescheidene Kolonie im Imago-Imperium. Provinz, mit relativer Freiheit für jene, die nicht aufmucken. Dann könnten wir Pläne machen… Sholl rief sich zur Ordnung. Deshalb war er nicht hier. Keine Hintergedanken, kein doppeltes Spiel. Er kam als Parlamentär von eigenen Gnaden, reinen Herzens.
Bin ich Pétain? Kollaborateur? Werden Kinder meinen Namen als Schimpfwort benutzen? Aber es wird Kinder geben.
Wir werden leben, wir werden die Botschaft verbreiten, dass wir besiegt sind, und wir werden leben, in Ghettos, wenn es sein muss, aber wir werden leben. Eine neue Ära beginnen. Was wir sein werden? Wir werden sein.
Jemand musste entscheiden. Unterwerfung oder sterben, wie wir schon die ganze Zeit sterben.
Seine Gedanken gingen zu dem seltsamen Imago, das ihm geholfen hatte, und immer noch rätselte er über dessen Motive. Er gedachte mit Schuldgefühlen der Soldaten draußen, die ihm gefolgt waren, entgegen seinem Befehl, wie er befürchtet hatte, und von der Leibwache des Fisches aus dem Spiegel
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