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Moloch

Titel: Moloch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville , Michael Moorcock , Paul di Filippo , Geoff Ryman
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haben Angst – ich auch, wenn ich in mich hineinhorche –, aber hier sind wir in Sicherheit. Hier gibt es nichts, das Jagd auf uns macht. Ich bin keine Gefahr mehr. Wir können durch die verlassenen, gespiegelten Straßen gehen, folgen vertrauten Wegen, ein seitenverkehrtes Abspulen unserer Erinnerungen. Wir können bleiben wie wir waren: allein mit uns.
     
    Das splitternde Glas zerschnitt mir das Gesicht, als der Asymmet aus dem Spiegel barst, aber ich fasste mich schnell. Ich schrak nicht zurück vor meinem eigenen zähnefletschenden Gesicht. Ich war nicht entsetzt oder verstört. Ich hatte diesem Alter ego hinter der Glasscheibe nie so recht getraut. Deshalb hat es mich ausgerechnet dort gefunden, in dem Waschraum einer Klinik, gleich bei meiner Station mit Melancholikern und Hysterikern.
    Wir wälzten und würgten uns im Zerstörungswerk seines Herüberkommens. Wir rangen unter dem Urinal, sprengten die Türen der leeren Kabinen. Obgleich wir – sie, meine ich, die Vampire – stark sind und schwer zu töten, gelang es mir, mit langen, scharfen Scherbendolchen. Ich stach und sägte, zerschnitt mir die Finger, spürte, wie meine Muskeln vor Anstrengung zitterten, doch nach langen Minuten lag ich in dem Blut aus seinen Adern, und meines Doppelgängers Kopf war abgetrennt und er war tot und ich war himmelhoch jauchzend und zugleich von Grauen erfüllt. Und ohne Spiegelbild.
    Natürlich versuchte ich zu erklären, doch ich war von Kopf bis Fuß voller Blut, als ich herauskam, und die Patienten, meine langjährigen Verbündeten kreischten Zeter und Mordio, und dann merkten sie, dass man mich im Spiegel nicht sehen konnte und schrien, ich wäre ein Monster. Ein Vampir. Meine Freunde. Sie stierten mich an, der ich blutüberströmt vor ihnen stand, und dann in den leeren Spiegel, und in ihren Mienen malte sich ein derart panisches Entsetzen, dass ich mein Heil in der Flucht suchte.
    Ich lebe schon sehr lange. Warum? Erklären kann ich es nicht. Möglicherweise sind es unsere Imagos, die uns töten. Dazu verdammt, uns nachzuahmen, könnte ihr Hass die Barriere aus Glas durchdrungen und uns langsam vergiftet haben. Nur habe ich meinen getötet, deshalb bin ich nicht gestorben. Sehr lange lebe ich schon, allein: Jahr um Jahr, wusste nicht, wohin ich gehörte, fürchtete euch mehr denn je, verabscheute euch inbrünstiger, eine bittere, steigende Flut, und immer allein.
    Dies ist mein erster Besuch auf der anderen Seite des Spiegels, aber ich kenne die gesamte Imago-Historie auswendig. Man hat sie mir ins Ohr geraunt, durch kaltes Glas hindurch. Die Geschichten aus dem alten Venedig. Wie gerne ich dabei gewesen wäre. All die Geschichten über den Gelben Kaiser. Jahrelang habe ich Fußböden gewischt und Toiletten geputzt, an allen möglichen Orten, nur um Meinesgleichen in den Spiegeln nahe zu sein und mit ihnen zu kommunizieren, wenn ihr alle den Waschraum verlassen hattet, weil der Laden zumachte oder der Zug einfuhr. Es mag widersprüchlich scheinen, aber man könnte nirgends vor Entdeckung sicherer sein als an jenen öffentlichen, viel besuchten Orten. Niemand nahm genügend Notiz von mir, um zu bemerken, dass auch der Spiegel keine Notiz von mir nahm. Man entwickelt Strategien der Vermeidung. Eine spezielle Art, sich zu bewegen, ein subtiler Ausweichtanz. Schwer zu lernen, und ein Meister erkennt den anderen. Als sie mir auffiel, die Frau im Bahnhof, erkor ich sie augenblicks zu meiner neuen Schwester, beobachtete, wie sie elegant spiegelnde Wände und Flächen umging, lockte sie ins Café und brachte sie dazu, mich zu lehren, was sie war und was ich sein wollte. Lange, lange weigerte sie sich, etwas zu sagen. Endlich erkannte sie, dass ich nicht im Sinn hatte, falsches Spiel mit ihr zu treiben, erkannte mein innerliches Beben, die Erregung, die Plausibilität, die Gemeinschaft, und weihte mich ein.
    Ohne Skrupel wechselte ich die Seiten. Ich hatte euch satt, alle miteinander. In jener Nacht nahm ich das Tuch von dem Spiegel in meinem Quartier, drückte meinen Mund an die leere Fläche und flüsterte: Was wollt ihr von mir? Was soll ich tun?
    Ich bin viele Jahre ihr Spion gewesen. Verbrachte meine Tage in euren Bedürfnisanstalten, schlief nachts mit dem Ohr am Spiegel, in den Schlaf gelullt von ihren Geschichten. Sie mussten wissen – unmöglich kann ich sie getäuscht haben –, dass ich ein Renegat war und nicht wie die anderen Vampire. Dennoch wurde ich belohnt, als sie herauskamen: Sie ließen mich leben als

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