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Moloch

Titel: Moloch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville , Michael Moorcock , Paul di Filippo , Geoff Ryman
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einen ihrer verkrüppelten Kundschafter. Ich habe sie gesehen, die Imagos, wie sie jeden Menschen töteten, den sie erblickten, mich aber verschonten. Sie haben mich gerettet. Vor dem Mann, den sie nicht berühren wollten. Den ich berührte. Mich dadurch entlarvte. Und nun habe ich mich abgekehrt von ihnen und bin geflohen und verberge mich.
    Nach all der Zeit, in der ich überhaupt nichts fühlte, fühle ich nun Scham. Und ich schwöre, dass ich nicht weiß, wem sie gilt. Ich weiß nicht, für welchen Verrat ich mich schämen soll. Bin ich ein schlechter Mensch oder ein schlechtes Imago? Welches ist die Wunde, die mich schmerzt?
    Sie spendet mir Trost, diese nahezu unbewohnte Stadt. Ich weiß, das alberne kleine Spiel, das ich spielte (Ich, das Monster), ist vorbei. Ich finde Trost darin, einfach mit mir allein zu sein.
    Ich bin nun nicht mehr einzigartig. Keiner auf der anderen Seite kann sich noch eines Spiegelbilds rühmen. Doch kehrte ich zurück, um wieder als einer von ihnen zu leben, wäre ich ein gejagtes Wild. Nicht, dass mir diese Vorstellung Angst machte – sie berührt mich nicht weiter. Aber ich habe die Absicht, hier zu bleiben, in dieser Stadt, wo ich allein sein kann.
     
    Ich frage mich, wer er war, dieser Mann, den Meinesgleichen, die Imagos, nicht berühren wollten. Ich frage mich, warum nicht und was er tun wird.
     
    Mir gefällt das leere London. Die Luft ist kühl. In den verlassenen Geschäften gibt es Lebensmittel in Dosen und Flaschen mit Aufdrucken in Spiegelschrift.
    Zum Zeitvertreib steige ich auf die Dächer von Hochhäusern und halte Umschau – in der Morgen- und Abenddämmerung –, lasse den Blick über den umgekehrten Horizont schweifen, dem Fluss folgen, der sich nach der falschen Himmelsrichtung windet, und auf den Wolkenkratzern verweilen, auf der falschen Seite der Stadt. Es ist beruhigend. Die Stadt ohne Lichter, durchweht vom Wind, ganz wie eine natürliche Landschaft. Fensterscheiben biegen sich millimeterbruchstückweise in den Böen. Von meinem Aussichtspunkt aus erspähe ich manchmal die anderen Bewohner, die Flüchtlinge vor dem universalen Chaos auf der anderen Seite. Einige erkenne ich wieder: Wir laufen uns über den Weg, ein-, zweimal am Tag, und ich weiß, auch sie erkennen mich.
    Auch wenn wir nicht lächeln und uns nicht ansehen, wir kennen einander. Wir sind hier in Sicherheit, hier fürchtet einer den anderen nicht.
     
    Manchmal starre ich in Pfützen (beim Gehen passe ich auf, nicht hineinzutreten), bemühe mich, mit meinem Blick die Schleier zu durchdringen. Ich wüsste gern, was vorgeht in London Primo.
    Einer der in meine stille Stadt Geflüchteten hat die gleiche Angewohnheit. Ich habe ihn gesehen, über eine Lache gebeugt, die Hände in die Hüften gestemmt, spähend. Ein Mann, bärtig aus Nachlässigkeit, in einen ehemals teuren Mantel gewickelt. Ich habe ihn beobachtet und gesehen, dass er mich sieht, aber noch haben wir kein Wort gewechselt. Wir stehen an entgegengesetzten Enden einer Straße, äugen jeder in den eigenen hydromantischen Tümpel und die Situation ist so, als wären wir im selben Zimmer und würden uns demnächst bekannt machen.
    Über meinem stillen London geht die Sonne unter. Im Osten.

 

     
    Dies ist eine Kapitulation, dachte Sholl. Man betrachte sie als ausgesprochen.
     
    Refraktion ist die Richtungsänderung einer Welle – z. B. Licht –, wenn sie in eine neue Substanz eindringt. Wir konnten nichts tun, dachte Sholl. Wir hatten keine Chance. Wir müssen die Richtung ändern.
    Der Fisch aus dem Spiegel lauschte.
    Wir kapitulieren, dachte Sholl wieder. Das war sein Plan gewesen, von Anfang an.
     
    Das ist er? Das ist der Plan?
    Sholl wusste nicht, wessen Stimme das war, die er hier in Worte kleidete. Die Frage traf ihn ins Mark.
    Was wollt ihr? Was soll ich tun?, dachte er.
    Er versuchte nicht, seine Gewissensbisse damit zu beschwichtigen, dass er sich sagte, er hätte die Soldaten nicht belogen, er hätte ihnen keine Versprechungen gemacht, was seinen Plan anging. Er hatte keine Lüge ausgesprochen und war doch der Lüge schuldig.
     
    Der Fisch aus dem Spiegel kam näher, dehnte sich aus, von Unlicht durchpulst. Er lauschte ohne Kommentar. Der Sieger gewährte dem Unterlegenen Audienz und hörte ihn an.
    Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie wir ausgetilgt werden, dachte Sholl. Wir können es schaffen. Sie hören mir zu. Tatsächlich? Mit Sicherheit wusste er nur, dass sie darauf verzichtet hatten, ihn zu töten, und ihm

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