Momo
sagte sie zu Kassiopeia, „können wir nicht ein bißchen schneller gehen?“
„JE LANGSAMER , DESTO SCHNELLER“, war die Antwort der Schildkröte. Sie krabbelte weiter, eher noch langsamer als vorher. Und Momo bemerkte – wie schon beim vorigen Mal – daß sie hier gerade dadurch schneller vorwärts kamen. Es war geradezu, als glitte die Straße unter ihnen dahin, immer schneller, je langsamer sie beide gingen. Denn dies war das Geheimnis jenes weißen Stadtteils: Je langsamer man voranschritt, desto schneller kam man vom Fleck.
Und je mehr man sich beeilte, desto langsamer kam man voran. Das hatten die grauen Herren damals, als sie Momo mit den drei Autos verfolgten, nicht gewußt. So war Momo ihnen entkommen. Damals! Aber jetzt war die Sache anders. Denn jetzt wollten sie das Mädchen und die Schildkröte ja gar nicht einholen. Jetzt folgten sie den beiden genauso langsam wie diese gingen. Und so entdeckten sie nun auch dieses Geheimnis. Langsam füllten sich die weißen Straßen hinter den beiden mit dem Heer der grauen Herren. Und da diese nun wußten, wie man sich hier bewegen mußte, gingen sie sogar noch etwas langsamer als die Schildkröte, und dadurch holten sie auf und kamen näher und näher heran. Es war wie ein umgekehrter Wettlauf, ein Wettlauf der Langsamkeit.
Kreuz und quer ging der Weg durch diese Traumstraßen, immer tiefer und tiefer hinein ins Innere des weißen Stadtteils. Dann war die Ecke der Niemals-Gasse erreicht.
Kassiopeia war schon eingebogen und lief auf das Nirgend-Haus zu. Momo erinnerte sich, daß sie in dieser Gasse nicht hatte weiterkommen können, bis sie sich umgedreht hatte und rückwärts gegangen war. Und deshalb tat sie es jetzt wieder. Und nun blieb ihr fast das Herz stehen vor Schreck. Wie eine graue, wandernde Mauer kamen die Zeit-Diebe heran, einer neben dem anderen, die ganze Straßenbreite ausfüllend, und Reihe hinter Reihe, so weit man sehen konnte.
Momo schrie auf, aber sie konnte ihr eigene Stimme nicht hören. Sie lief rückwärts in die Niemals-Gasse hinein und starrte mit aufgerissenen Augen auf das nachfolgende Heer der grauen Herren. Aber nun geschah abermals etwas Seltsames: Als die ersten der Verfolger in die Niemals-Gasse einzudringen versuchten, lösten sie sich buchstäblich vor Momos Augen in Nichts auf. Zuerst verschwanden ihre vorgestreckten Hände, dann die Beine und Körper und schließlich auch die Gesichter, auf denen ein überraschter und entsetzter Ausdruck lag.
Aber nicht nur Momo hatte diesen Vorgang beobachtet, sondern natürlich auch die anderen nachdrängenden grauen Herren. Die ersten stemmten sich gegen die Masse der nachfolgenden, und für einen Augenblick entstand eine Art Handgemenge unter ihnen. Momo sah ihre zornigen Gesichter und ihre drohend geschüttelten Fäuste. Aber keiner wagte es, ihr weiter zu folgen.
Dann hatte Momo endlich das Nirgend-Haus erreicht. Die große schwere Tür aus grünem Metall öffnete sich. Momo stürzte hinein, rannte durch den Gang mit den steinernen Figuren, öffnete die ganz kleine Tür am anderen Ende, schlüpfte hindurch, lief durch den Saal mit den unzähligen Uhren auf das kleine Zimmerchen in der Mitte der Standuhren zu, warf sich auf das zierliche Sofa und versteckte ihr Gesicht unter einem Kissen, um nichts mehr zu sehen und zu hören.
NEUNZEHNTES KAPITEL: Die Eingeschlossenen müssen sich entschließen
Eine leise Stimme sprach.
Langsam tauchte Momo aus der Tiefe ihres traumlosen Schlafes empor. Sie fühlte sich auf wunderbare Weise erquickt und ausgeruht. „Das Kind kann nichts dafür“, hörte sie die Stimme sagen, „aber du, Kassiopeia – warum hast du das nur getan?“
Momo schlug die Augen auf. Am Tischchen vor dem Sofa saß Meister Hora. Er blickte mit kummervollem Gesicht vor sich auf den Boden nieder, wo die Schildkröte saß. „Konntest du dir nicht denken, daß die Grauen euch folgen würden?“
„WEISS NUR VORHER“, erschien auf Kassiopeias Rücken, „DENKE NICHT NACH!“
Meister Hora schüttelte seufzend den Kopf. „Ach, Kassiopeia, Kassiopeia - manchmal bist du auch mir ein Rätsel!“ Momo setzte sich auf.
„Ah, unsere kleine Momo ist aufgewacht!“ sagte Meister Hora freundlich. „Ich hoffe, du fühlst dich wieder gut?“
„Sehr gut, danke“, antwortete Momo, „entschuldige bitte, daß ich hier einfach eingeschlafen bin.“
„Mach dir darüber keine Gedanken“, erwiderte Hora. „Das war ganz in Ordnung. Du brauchst mir nichts zu erklären. Soweit ich nicht
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