Momo
kannst. Das alles war unser Plan. Du siehst, wie mächtig wir sind. Es hat keinen Sinn, sich uns zu widersetzen. Die vielen einsamen Stunden, was sind sie jetzt für dich? Ein Fluch, der dich erdrückt, eine Last, die dich erstickt, ein Meer, das dich ertränkt, eine Qual, die dich versengt. Du bist ausgesondert von allen Menschen.“ Momo hörte zu und schwieg weiterhin.
„Einmal“, fuhr die Stimme fort, „kommt der Augenblick, wo du es nicht mehr erträgst, morgen, in einer Woche, in einem Jahr. Uns ist es gleich, wir warten einfach. Denn wir wissen, daß du einmal gekrochen kommen wirst und sagst: Ich bin zu allem bereit, nur befreit mich von dieser Last! – Oder bist du schon so weit? Du brauchst es nur zu sagen.“
Momo schüttelte den Kopf.
„Du willst dir nicht von uns helfen lassen?“ fragte die Stimme eisig.
Eine Welle von Kälte kam von allen Seiten auf Momo zu, aber sie biß die Zähne zusammen und schüttelte abermals den Kopf.
„Sie weiß, was die Zeit ist“, zischelte eine andere Stimme.
„Das beweist, daß sie wirklich beim Sogenannten war“, antwortete die erste Stimme ebenso. Und dann fragte sie laut: „Kennst du Meister Hora?“
Momo nickte.
„Und du warst tatsächlich bei ihm?“
Momo nickte wieder.
„Dann kennst du also die – Stunden-Blumen?“
Momo nickte zum dritten Mal. Oh, und wie gut sie sie kannte! Wieder entstand eine längere Stille. Als die Stimme von neuem zu reden anfing, kam sie abermals aus einer anderen Richtung.
„Du liebst deine Freunde, nicht wahr?“
Momo nickte.
„Und du würdest sie gern aus unserer Gewalt befreien?“
Wieder nickte Momo.
„Du könntest es, wenn du nur wolltest.“
Momo zog sich ihre Jacke ganz eng um den Leib, denn sie bebte an allen Gliedern vor Kälte.
„Es würde dich wirklich nur eine Kleinigkeit kosten, deine Freunde zu befreien. Wir helfen dir, und du hilfst uns. Das ist doch nicht mehr als recht und billig.“
Momo blickte aufmerksam in die Richtung, aus welcher die Stimme jetzt kam. „Wir möchten diesen Meister Hora nämlich auch gern einmal persönlich kennenlernen, verstehst du? Aber wir wissen nicht, wo er wohnt. Wir wollen von dir nicht mehr, als daß du uns zu ihm führst. Das ist alles. Ja, höre nur gut zu, Momo, damit du auch sicher bist, daß wir vollkommen offen mit dir reden und es ehrlich meinen: Du bekommst dafür deine Freunde zurück, und ihr könnt wieder euer altes, lustiges Leben führen. Das ist doch ein lohnendes Angebot!“ Jetzt tat Momo zum ersten Mal den Mund auf. Es kostete sie Anstrengung zu sprechen, denn ihre Lippen waren wie eingefroren. „Was wollt ihr von Meister Hora?“ fragte sie langsam.
„Wir wollen ihn kennenlernen“, antwortete die Stimme scharf, und die Kälte nahm zu. „Damit laß dir genug sein.“ Momo blieb stumm und wartete ab. Unter den grauen Herren entstand eine Bewegung, sie schienen unruhig zu werden. „Ich verstehe dich nicht“, sagte die Stimme, „denk doch an dich und deine Freunde! Was machst du dir Gedanken um Meister Hora. Das laß doch seine Sorge sein. Er ist alt genug, um für sich selbst zu sorgen. Und außerdem – wenn er vernünftig ist und sich gütlich mit uns einigt, dann werden wir ihm kein Haar krümmen. Andernfalls haben wir unsere Mittel, ihn zu zwingen.“
„Wozu?“ fragte Momo mit blauen Lippen.
Plötzlich klang die Stimme nun schrill und überanstrengt, als sie antwortete: „Wir haben es satt, uns die Stunden, Minuten und Sekunden der Menschen einzeln zusammenzuraffen. Wir wollen die ganze Zeit aller Menschen. Die muß Hora uns überlassen!“ Momo starrte entsetzt ins Dunkel, woher die Stimme kam.
„Und die Menschen?“ fragte sie. „Was wird dann aus denen?“
„Menschen“, schrie die Stimme und überschlug sich. „sind längst überflüssig. Sie selbst haben die Welt so weit gebracht, daß für ihresgleichen kein Platz mehr ist. Wir werden die Welt beherrschen!“
Die Kälte war jetzt so schrecklich, daß Momo nur noch mühsam die Lippen bewegen, aber kein Wort mehr hervorbringen konnte. „Aber keine Sorge, kleine Momo“, fuhr die Stimme nun plötzlich wieder leise und beinahe schmeichelnd fort, „du und deine Freunde, ihr seid natürlich ausgenommen. Ihr werdet die letzten Menschen sein, die spielen und sich Geschichten erzählen. Ihr mischt euch nicht mehr in unsere Angelegenheiten, und wir lassen euch in Ruhe.“ Die Stimme verstummte, begann aber gleich darauf aus anderer Richtung wieder zu reden: „Du weißt, daß wir die Wahrheit
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