Momo
wandte Momo sein aschengraues Gesicht zu, richtete sich mühsam halb auf und hob zitternd seine Hand. „Bitte“, flüsterte er, „bitte, liebes Kind, gib mir die Blume!“ Momo stand noch immer in die Ecke gepreßt, drückte die Blume an sich und schüttelte, keines Wortes mehr mächtig, den Kopf.
Der letzte graue Herr nickte langsam. „Es ist gut“, murmelte er, „es ist gut - daß nun – alles – vorbei – ist -“ Und dann war auch er verschwunden.
Momo starrte fassungslos auf die Stelle, wo er gelegen hatte. Aber dort krabbelte jetzt Kassiopeia, auf deren Rücken stand: „DU MACHST DIE TÜR AUF.“
Momo ging zu der Tür, berührte sie wieder mit ihrer Stunden-Blume, an der nur noch ein einziges, letztes Blütenblatt hing, und öffnete sie weit.
Mit dem Verschwinden des letzten Zeit-Diebes war auch die Kälte gewichen.
Momo ging mit staunenden Augen in die riesigen Vorratsspeicher hinein. Unzählige Stunden- Blumen standen hier wie gläserne Kelche aufgereiht in endlosen Regalen, und eine war herrlicher anzusehen als die andere, und keine war einer anderen gleich – Hunderttausende, Millionen von Lebensstunden. Es wurde warm und wärmer wie in einem Treibhaus.
Während das letzte Blatt von Momos eigener Stunden-Blume abfiel, begann mit einem Mal eine Art Sturm. Wolken von Stunden-Blumen wirbelten um sie her und an ihr vorüber. Es war wie ein warmer Frühlingssturm, aber ein Sturm aus lauter befreiter Zeit. Momo schaute wie im Traum umher und sah Kassiopeia vor sich auf dem Boden. Und auf ihrem Rückenpanzer stand in leuchtender Schrift: „FLIEGE HEIM, KLEINE MOMO, FLIEGE HEIM!“
Und dies war das letzte, was Momo von Kassiopeia sah. Denn nun verstärkte sich der Sturm der Blüten ganz unbeschreiblich, wurde so gewaltig, daß Momo aufgehoben und davongetragen wurde, als sei sie selbst eine der Blumen, hinaus, hinaus aus den finsteren Gängen, hinauf über die Erde und hinauf über die große Stadt. Sie flog dahin über die Dächer und Türme in einer riesigen Wolke aus Blumen, die immer größer und größer wurde. Und es war wie ein übermütiger Tanz nach einer herrlichen Musik, in dem sie auf und nieder schwebte und sich um sich selbst drehte.
Dann senkte sich die Blütenwolke langsam und sacht hernieder, und die Blumen fielen wie Schneeflocken auf die erstarrte Welt. Und wie Schneeflocken, so lösten sie sich sanft auf und wurden wieder unsichtbar, um dorthin zurückzukehren, wohin sie eigentlich gehörten: in die Herzen der Menschen.
Im selben Augenblick begann die Zeit wieder, und alles regte und bewegte sich von neuem.
Die Autos fuhren, die Verkehrsschutzleute pfiffen, die Tauben flogen und der kleine Hund am Lichtmast machte sein Bächlein.
Davon, daß die Welt für eine Stunde still gestanden hatte, hatten die Menschen nichts bemerkt. Denn es war ja tatsächlich keine Zeit verstrichen zwischen dem Aufhören und dem neuen Beginn. Es war für sie vorübergegangen wie ein Wimpernschlag. Und doch war etwas anders geworden als vorher. Alle Leute hatten nämlich plötzlich unendlich viel Zeit. Natürlich war darüber jedermann außerordentlich froh, aber niemand wußte, daß es in Wirklichkeit seine eigene gesparte Zeit war, die nun auf wunderbare Weise zu ihm zurückkehrte.
Als Momo wieder recht zur Besinnung kam, fand sie sich auf einer Straße wieder. Es war die Seitenstraße, wo sie vorher Beppo gefunden hatte, und wirklich, dort stand er noch! Stand mit dem Rücken zu ihr, auf seinen Besen gestützt, und schaute nachdenklich vor sich hin, ganz wie früher. Er hatte es auf einmal gar nicht mehr eilig und konnte sich selbst nicht erklären, wieso er sich plötzlich so getröstet und voller Hoffnung fühlte.
„Vielleicht“, dachte er, „habe ich jetzt die hunderttausend Stunden eingespart und Momo freigekauft.“
Und genau in diesem Augenblick zupfte ihn jemand an der Jacke, und er drehte sich um, und die kleine Momo stand vor ihm. Es gibt wohl keine Worte, die das Glück des Wiedersehens beschreiben können. Beide lachten und weinten abwechselnd und redeten fortwährend durcheinander und natürlich lauter dummes Zeug, wie das eben so ist, wenn man vor Freude wie betrunken ist. Und sie umarmten sich immer wieder, und die Leute, die vorübergingen, blieben stehen und freuten sich und lachten und weinten mit, denn sie hatten ja nun alle genügend Zeit dazu.
Endlich schulterte Beppo seinen Besen, denn es versteht sich wohl von selbst, daß er für diesen Tag nicht mehr ans Arbeiten dachte. So
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