Momo
äußere Erscheinung war in der Tat ein wenig seltsam und konnte auf Menschen, die großen Wert auf Sauberkeit und Ordnung legen, möglicherweise etwas erschreckend wirken. Sie war klein und ziemlich mager, so daß man beim besten Willen nicht erkennen konnte, ob sie erst acht oder schon zwölf Jahre alt war. Sie hatte einen wilden, pechschwarzen Lockenkopf, der so aussah, als ob er noch nie mit einem Kamm oder einer Schere in Berührung gekommen wäre. Sie hatte sehr große, wunderschöne und ebenfalls pechschwarze Augen und Füße von der gleichen Farbe, denn sie lief fast immer barfuß. Nur im Winter trug sie manchmal Schuhe, aber es waren zwei verschiedene, die nicht zusammenpaßten und ihr außerdem viel zu groß waren. Das kam daher, daß Momo eben nichts besaß, als was sie irgendwo fand oder geschenkt bekam. Ihr Rock war aus allerlei bunten Flicken zusammengenäht und reichte ihr bis auf die Fußknöchel.
Darüber trug sie eine alte, viel zu weite Männerjacke, deren Ärmel an den Handgelenken umgekrempelt waren. Abschneiden wollte Momo sie nicht, weil sie vorsorglich daran dachte, daß sie ja noch wachsen würde. Und wer konnte wissen, ob sie jemals wieder eine so schöne und praktische Jacke mit so vielen Taschen finden würde.
Unter der grasbewachsenen Bühne der Theaterruine gab es ein paar halb eingestürzte Kammern, die man durch ein Loch in der Außenmauer betreten konnte. Hier hatte Momo sich häuslich eingerichtet. Eines Mittags kamen einige Männer und Frauen aus der näheren Umgebung zu ihr und versuchten sie auszufragen. Momo stand ihnen gegenüber und guckte sie ängstlich an, weil sie fürchtete, die Leute würden sie wegjagen. Aber sie merkte bald, daß es freundliche Leute waren. Sie waren selber arm und kannten das Leben. „So“, sagte einer der Männer, „hier gefällt es dir also?“
„Ja“, antwortete Momo.
„Und du willst hier bleiben?“
„Ja, gern.“
„Aber wirst du denn nirgendwo erwartet?“
„Nein.“
„Ich meine, mußt du denn nicht wieder nach Hause?“
„Ich bin hier zu Hause“, versicherte Momo schnell.
„Wo kommst du denn her, Kind?“
Momo machte mit der Hand eine unbestimmte Bewegung, die irgendwohin in die Ferne deutete.
„Wer sind denn deine Eltern?“ forschte der Mann weiter. Das Kind schaute ihn und die anderen Leute ratlos an und hob ein wenig die Schultern. Die Leute tauschten Blicke und seufzten. „Du brauchst keine Angst zu haben“, fuhr der Mann fort, „wir wollen dich nicht vertreiben. Wir wollen dir helfen.“ Momo nickte stumm, aber noch nicht ganz überzeugt. „Du sagst, daß du Momo heißt, nicht wahr?“
„Ja.“
„Das ist ein hübscher Name, aber ich hab' ihn noch nie gehört. Wer hat dir denn den Namen gegeben?“
„Ich“, sagte Momo.
„Du hast dich selbst so genannt?“
„Ja.“
„Wann bist du denn geboren?“
Momo überlegte und sagte schließlich: „Soweit ich mich erinnern kann, war ich immer schon da.“
„Hast du denn keine Tante, keinen Onkel, keine Großmutter, überhaupt keine Familie, wo du hin kannst?“
Momo schaute den Mann nur an und schwieg eine Weile. Dann murmelte sie: „Ich bin hier zu Hause.“
„Na ja“, meinte der Mann, „aber du bist doch ein Kind - wie alt bist du eigentlich?“
„Hundert“, sagte Momo zögernd. Die Leute lachten, weil sie es für einen Spaß hielten. „Also, ernsthaft, wie alt bist du?“
„Hundertzwei“, antwortete Momo, noch ein wenig unsicherer. Es dauerte eine Weile, bis die Leute merkten, daß das Kind nur ein paar Zahlwörter kannte, die es aufgeschnappt hatte, sich aber nichts Bestimmtes darunter vorstellen konnte, weil niemand es Zählen gelehrt hatte.
„Hör mal“, sagte der Mann, nachdem er sich mit den anderen beraten hatte, „wäre es dir recht, wenn wir der Polizei sagen, daß du hier bist? Dann würdest du in ein Heim kommen, wo du zu essen kriegst und ein Bett hast und wo du rechnen und lesen und schreiben und noch viel mehr lernen kannst. Was hältst du davon, eh?“ Momo sah ihn erschrocken an.
„Nein“, murmelte sie, „da will ich nicht hin. Da war ich schon mal. Andere Kinder waren auch da. Da waren Gitter an den Fenstern, jeden Tag gab's Prügel – aber ganz ungerecht. Da bin ich nachts über die Mauer und weggelaufen. Da will ich nicht wieder hin.“
„Das kann ich verstehen“, sagte ein alter Mann und nickte. Und die anderen Leute konnten es auch verstehen und nickten. „Also gut“, sagte eine Frau, „aber du bist doch noch klein. Irgendwer muß
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