Momo
Aufgaben, die du lösen müßtest, sind viel schwerer! Sobald die grauen Herren merken, daß die Zeit aufgehört hat – und das werden sie sehr schnell merken, weil ihr Zigarren-Nachschub ausbleiben wird – werden sie die Belagerung abbrechen und zu ihren Zeitvorräten streben. Und dorthin mußt du ihnen folgen, Momo. Wenn du ihr Versteck gefunden hast, dann mußt du sie daran hindern, an ihre Zeitvorräte zu kommen.
Sobald ihre Zigarren zu Ende sind, geht es auch mit ihnen zu Ende. Aber danach bleibt noch etwas zu tun, und das wird vielleicht von allem das Schwerste sein. Wenn der letzte Zeit-Dieb verschwunden ist, dann mußt du die ganze geraubte Zeit befreien. Denn nur, wenn diese zurückkehrt zu den Menschen, wird die Welt aufhören, still zu stehen, und ich selbst kann wieder aufwachen. Und für alles das bleibt dir nur eine einzige Stunde.“ Momo sah Meister Hora ratlos an. Mit einem solchen Berg von Schwierigkeiten und Gefahren hatte sie nicht gerechnet. „Willst du es trotzdem versuchen?“ fragte Meister Hora. „Es ist die einzige und letzte Möglichkeit.“ Momo schwieg.
Es schien ihr unmöglich, daß sie das schaffen konnte. „ICH GEH MIT DIR!“ las sie plötzlich auf Kassiopeias Rücken. Was konnte die Schildkröte ihr bei all dem helfen! Und doch war es ein winziger Hoffnungsstrahl für Momo. Die Vorstellung, nicht ganz allein zu sein, machte ihr Mut. Es war zwar ein Mut ohne jeden vernünftigen Grund, aber er bewirkte, daß sie sich auf einmal entscheiden konnte.
„Ich will es versuchen“, sagte sie entschlossen. Meister Hora blickte sie lange an und begann zu lächeln. „Vieles wird leichter sein, als du jetzt glaubst. Du hast die Stimmen der Sterne gehört. Du mußt keine Angst haben.“
Dann wandte er sich der Schildkröte zu und fragte: „Und du, Kassiopeia, willst also mitgehen?“
„NATÜRLICH!“ stand auf dem Panzer. Die Schrift verschwand, und es erschienen die Worte: „JEMAND MUSS DOCH AUF SIE AUFPASSEN!“ Meister Hora und Momo lächelten sich an.
„Kriegt sie auch eine Stunden-Blume?“ fragte Momo.
„Kassiopeia braucht das nicht“, erklärte Meister Hora und kraulte die Schildkröte zärtlich am Hals, „sie ist ein Wesen von außerhalb der Zeit. Sie trägt ihre eigene kleine Zeit in sich selbst. Sie könnte auch über die Welt krabbeln, wenn alles für immer still stünde.“
„Gut“, sagte Momo, in der nun plötzlich der Tatendrang erwachte, „und was sollen wir jetzt tun?“
„Jetzt“, antwortete Meister Hora, „wollen wir Abschied nehmen.“
Momo schluckte, dann fragte sie leise: „Werden wir uns denn nicht mehr wiedersehen?“
„Wir werden uns wiedersehen, Momo“, entgegnete Meister Hora, „und bis dahin wird jede Stunde deines Lebens dir einen Gruß von mir bringen. Denn wir bleiben doch Freunde, nicht wahr?“
„Ja“, sagte Momo und nickte.
„Ich werde nun gehen“, fuhr Meister Hora fort, „und du darfst mir nicht folgen und auch nicht fragen, wohin ich gehe. Denn mein Schlaf ist kein gewöhnlicher Schlaf, und es ist besser, wenn du nicht dabei bist. Nur eines noch: Sowie ich fort bin, mußt du sogleich die beiden Türen öffnen, die kleine, auf der mein Name steht, und die große aus grünem Metall, die auf die Niemals-Gasse hinausführt. Denn sobald die Zeit aufhört, steht alles still, und auch diese Türen sind durch keine Macht der Welt mehr zu bewegen. Hast du alles gut verstanden und behalten, mein Kind?“
„Ja“, sagte Momo, „aber woran soll ich erkennen, daß die Zeit aufgehört hat?“
„Sei unbesorgt, du wirst es bemerken.“
Meister Hora stand auf, und auch Momo erhob sich. Er strich ihr leise mit der Hand über ihren struppigen Haarschopf. „Leb wohl, kleine Momo“, sagte er, „es war eine große Freude für mich, daß du auch mir zugehört hast.“
„Ich werde allen von dir erzählen“, antwortete Momo, „später.“ Und nun sah Meister Hora plötzlich wieder unbegreiflich alt aus, ganz wie damals, als er sie in den goldenen Tempel getragen hatte, alt wie ein Felsenberg oder ein uralter Baum.
Er wandte sich ab und ging rasch aus dem kleinen Zimmer, das aus Uhrenkästen gebildet war.
Momo hörte seine Schritte immer ferner und ferner, und dann waren sie von dem Ticken der vielen Uhren nicht mehr zu unterscheiden. Vielleicht war er in dieses Ticken hineingegangen.
Momo hob Kassiopeia hoch und drückte sie fest an sich. Ihr größtes Abenteuer hatte unwiderruflich begonnen.
ZWANZIGSTES KAPITEL: Die Verfolgung der Verfolger
Als
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