Momo
Nachricht unserer Agenten aus der Stadt gekommen. Ihre Autos stehen. Alles steht. Die Welt steht still. Es ist unmöglich, irgendeinem Menschen noch das kleinste bißchen Zeit zu entreißen. Unser gesamter Nachschub ist zusammengebrochen! Es gibt keine Zeit mehr! Hora hat die Zeit abgestellt!“
Einen Augenblick herrschte Totenstille. Dann fragte einer: „Was sagen Sie? Unser Nachschub ist zusammengebrochen? Aber was wird dann aus uns, wenn unsere mitgeführten Zigarren verbraucht sind?“
„Das wissen Sie selbst, was dann aus uns wird!“ schrie ein anderer. „Das ist eine fürchterliche Katastrophe, meine Herren!“ Und nun schrien plötzlich alle durcheinander: „Hora will uns vernichten! – Wir müssen sofort die Belagerung abbrechen! – Wir müssen versuchen, zu unseren Zeit-Speichern zu kommen! – Ohne Wagen? Das können wir nicht rechtzeitig schaffen! Meine Zigarren reichen nur noch für siebenundzwanzig Minuten! – Meine für achtundvierzig! - Dann geben Sie her! – Sind Sie verrückt? – Rette sich, wer kann!“ Alle waren auf das kleine Türchen zugerannt und drängten gleichzeitig hinaus. Momo konnte aus ihrem Versteck beobachten, wie sie sich in ihrer Panik gegenseitig wegboxten, schoben und zogen und immer heftiger in ein Handgemenge gerieten.
Jeder wollte vor dem anderen hinaus und kämpfte um sein graues Leben. Sie schlugen sich die Hüte von den Köpfen, sie rangen miteinander und rissen sich gegenseitig die kleinen grauen Zigarren aus den Mündern. Und jeder, dem das widerfuhr, schien plötzlich alle Kraft zu verlieren. Er stand da, die Hände ausgestreckt, mit einem greinenden, angstvollen Ausdruck im Gesicht, wurde rasch immer durchsichtiger und verschwand zuletzt. Nichts blieb von ihm übrig, nicht einmal sein Hut.
Schließlich waren nur noch drei der grauen Herren im Saal, und denen gelang es nun doch, nacheinander durch das kleine Türchen hinauszuschlüpfen und davonzukommen.
Momo, unter einem Arm die Schildkröte, in der anderen Hand die Stunden-Blume, lief hinter ihnen her. Jetzt kam alles darauf an, daß sie die grauen Herren nicht mehr aus den Augen verlor. Als sie aus dem großen Tor trat, sah sie, daß die Zeit-Diebe schon bis zum Anfang der Niemals-Gasse gelaufen waren. Dort standen in den Rauchschwaden andere Gruppen von grauen Herren, die aufgeregt gestikulierend aufeinander einredeten.
Als sie die aus dem Nirgend-Haus Gekommenen rennen sahen, begannen sie ebenfalls zu rennen, andere schlossen sich den Fliehenden an, und binnen kurzem befand sich das ganze Heer Hals über Kopf auf dem Rückzug. Eine schier endlose Karawane grauer Herren rannte stadteinwärts durch die seltsame Traumgegend mit den schneeweißen Häusern und den verschieden fallenden Schatten. Durch das Verschwinden der Zeit hatte nun natürlich auch hier die geheimnisvolle Umkehrung von schnell und langsam aufgehört.
Der Zug der grauen Herren führte vorbei an dem großen Ei-Denkmal und weiter bis dorthin, wo die ersten gewöhnlichen Häuser standen, jene grauen, verfallenen Mietskasernen, in denen die Menschen wohnten, die eben am Rande der Zeit lebten. Aber auch hier war nun alles starr.
In gebührendem Abstand hinter den letzten Nachzüglern folgte Momo. Und so begann nun eine umgekehrte Jagd durch die große Stadt, eine Jagd, bei welcher die riesige Schar der grauen Herren floh und ein kleines Mädchen mit einer Blume in der Hand und einer Schildkröte unter dem Arm sie verfolgte.
Aber wie sonderbar sah diese Stadt nun aus! Auf den Fahrbahnen standen die Autos Reihe neben Reihe, hinter den Steuerrädern saßen bewegungslos die Fahrer, die Hände an der Schaltung oder auf der Hupe (einer tippte sich gerade mit dem Finger an die Stirn und starrte wütend zu seinem Nachbarn hinüber), Radfahrer, die den Arm ausgestreckt hielten, um zu zeigen, daß sie abbiegen wollten, und auf den Gehsteigen all die Fußgänger, Männer, Frauen, Kinder, Hunde und Katzen vollkommen reglos und starr, sogar der Rauch aus den Auspuffrohren. Auf den Straßenkreuzungen waren die Verkehrspolizisten, ihre Trillerpfeife im Mund, mitten im Winken stehen geblieben. Ein Schwarm Tauben schwebte über einem Platz unbeweglich in der Luft. Hoch über allem stand ein Flugzeug wie gemalt am Himmel.
Das Wasser der Springbrunnen sah aus wie Eis. Blätter, die von Bäumen fielen, lagen reglos mitten in der Luft. Und ein kleiner Hund, der gerade ein Bein an einem Lichtmast hob, stand, als wäre er ausgestopft. Mitten durch diese Stadt, die leblos
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